Tragen Waldorfschulen als Privatschulen ebenfalls zur Trennung sozialer Gruppen bei? Oder bieten sie allen Schüler:innen eine besondere Chance auf alle Bildungsabschlüsse, weil es kein Sitzenbleiben und kein Selektieren nach der Grundschule gibt?
Armut wirkt
Ein Aufwachsen in Armut, resultierend aus der ungerechten Verteilung von Ressourcen in unserer Gesellschaft, wirkt sich einschränkend auf alle Lebensbereiche aus. Von Armut betroffene Kinder und Jugendliche leben häufiger in beengten Wohnverhältnissen und in sozial belasteten Quartieren, fahren weniger in den Urlaub, nehmen weniger kulturelle oder sportliche Freizeitaktivitäten wahr – kurzum, die Entwicklungs-, Gestaltungs- und Erfahrungsräume sind aufgrund von mangelnden finanziellen Möglichkeiten begrenzt. Darüber hinaus wirkt sich das Erleben von sozialer Ausgrenzung, Stigmatisierung und Beschämung langfristig negativ auf das Selbstwertgefühl, die Selbstwirksamkeit und die Lebenszufriedenheit aus. Dazu kommt, dass Armutsstrukturen in unserer Gesellschaft stark verfestigt sind, also in den meisten Fällen über mehrere Generationen das Leben von betroffenen Familien prägen.
Das Aufwachsen in Armut gefährdet zahlreiche Rechte von Kindern, die in der Kinderrechtskonvention formuliert sind, unter anderem das Recht jedes Kindes auf Gleichheit und Schutz vor Benachteiligung (Artikel 2), bestmögliche Entwicklung (Artikel 6), Beteiligung und Teilhabe (Artikel 12), das erreichbare Höchstmaß an Gesundheit (Artikel 24), soziale Sicherheit und der Entwicklung angemessene Lebensbedingungen (Artikel 26, 27) sowie das Recht auf Bildung (Artikel 28).
Soziale Herkunft und Bildungschancen
Seit Jahrzehnten stellt die Bildungssoziologie dem deutschen Bildungssystem ein schlechtes Zeugnis aus: Der Bildungserfolg von Kindern und Jugendlichen hängt dauerhaft vom sozialen Status, dem Bildungshintergrund sowie dem Migrationshintergrund der Eltern ab. Das Bildungswesen mildert die Auswirkungen von sozialen Benachteiligungen aktuell also nicht ab. Während Kinder aus gehobenen Milieus auch im Bildungssystem privilegiert werden, scheitern Kinder aus materiell und sozial schlechter gestellten Familien an teilweise unsichtbaren und scheinbar unüberwindbaren Barrieren. Trotz aller Bemühungen um Chancengerechtigkeit ist der Bildungserfolg in Deutschland im Vergleich zu anderen Ländern besonders stark an die soziale Herkunft gekoppelt. So beginnen beispielsweise 74 von 100 Kindern aus Akademiker:innenfamilien ein Studium an einer Universität, jedoch nur 21 von 100 Kindern von Eltern ohne Hochschulabschluss. Eine benachteiligungssensible Pädagogik würde die unterschiedlichen Ausstattungen der Familien mit materiellen, kulturellen und sozialen Ressourcen wahrnehmen und berücksichtigen. Dann könnte das Bildungswesen auf den Abbau sozialer Ungleichheiten hinwirken und möglichst allen Kindern einen Zugang zu unserem kulturellen Erbe eröffnen und das gleiche Recht aller Kinder auf die Entfaltung ihrer Potenziale gewährleisten, unabhängig von ihrem Wohnort und ihrer sozialen Herkunft.
Waldorfpädagogik und Bildungschancen: Soziale Gerechtigkeit war Gründungsimpuls
Wollen waldorfpädagogische Einrichtungen in diesem Sinne einen Beitrag zur Demokratisierung von Bildungschancen leisten? Es steht der Vorwurf im Raum, dass Schulen in freier Trägerschaft, gewollt oder ungewollt, die beschriebene soziale Selektivität des Bildungssystems noch verstärken. Da die Zusammensetzung der Klientel auch an Waldorfschulen in der Regel vergleichsweise privilegiert und homogen ist, tragen diese zu der Tendenz der Entmischung sozialer Milieus in der Gesellschaft bei. Diese soziale Segregation führt zu einer zunehmenden Ballung von Problemlagen in bestimmten Stadtgebieten oder an einzelnen Schulen auf der einen Seite, während eine «schöne heile Privatschulwelt» Oasen für Kinder aus privilegierten Milieus bereithält. Dies steht im Widerspruch zu dem Anspruch an Inklusion und an die freie Entfaltung der Potenziale aller Kinder, unabhängig von ihrer Herkunft. Der Gründungsimpuls der Waldorfschulbewegung wurzelt darin, einen Beitrag zu sozialer Gerechtigkeit und Erneuerung zu leisten. In der Eröffnungsrede der ersten Freien Waldorfschule in Stuttgart am 7. September 1919 betonte der Stifter Emil Molt sein Anliegen, «die erste sogenannte Einheitsschule ins Leben zu rufen», die nicht nur für den «Sohn und die Tochter des Begüterten», sondern auch den Kindern «der einfachen Arbeiter» offensteht. Schon in den ersten Jahren nach der Gründung zogen allerdings viele anthroposophisch interessierte Menschen nach Stuttgart, um ihren Kindern die Bildung in der von Steiner gegründeten Schule zu ermöglichen. Damit begann die Tendenz, dass Waldorfschulen hauptsächlich von ressourcenstarken Elternhäusern nachgefragt und geprägt wurden.
In der heutigen Zeit finden Eltern aus prekären Lebenslagen dagegen eher selten einen Weg in waldorfpädagogische Einrichtungen. Offenbar stehen hier Barrieren für die Teilhabe armutsbetroffener Familien im Weg. Möglichkeiten, diese Hürden abzubauen, liegen aus meiner Sicht in der Verständlichkeit und Sichtbarkeit des pädagogischen Angebotes, in einem niedrigschwelligen Zugangsverfahren, in der Reduzierung von Zusatzkosten sowie der sozialräumlichen Vernetzung mit verschiedenen Akteuren im Stadtteil. So könnten bewusst Türen geöffnet werden für sozial durchmischte Schulgemeinschaften, in denen sich die Vielfalt in der Gesellschaft widerspiegelt, begegnet und bereichert. Dafür müssen zunächst ausschließende Kräfte überwunden werden, doch im Ergebnis würden von einer solchen inklusiven Kultur alle Beteiligten profitieren.
Potenziale der Waldorfpädagogik für eine Demokratisierung von Bildungschancen
Nach über hundert Jahren Waldorfpädagogik scheint es an der Zeit, noch einmal neu an die sozialen Impulse der Waldorfpädagogik anzuknüpfen, um gesellschaftlichen Tendenzen der Spaltung, der zunehmenden Polarisierung von arm und reich sowie der Abwertung und Benachteiligung von Menschen mit bestimmten Merkmalen entgegenzuwirken. Dafür müssen wir über den Tellerrand einer vermeintlich von der Gesellschaft losgelösten pädagogischen Sphäre hinausblicken und uns dem stellen, was aus der Gesellschaft in die pädagogischen Einrichtungen hineinwirkt und umgekehrt.
In Bezug auf die Demokratisierung von Bildungschancen birgt das Konzept der Waldorfpädagogik ein besonderes Potenzial. Dadurch, dass kein Sitzenbleiben und keine Aussonderung nach der Grundschulzeit stattfinden, steht allen Schüler:innen potenziell der Weg zu allen Bildungsabschlüssen offen. Insbesondere das breite Spektrum an Lernformen und Erfahrungsmöglichkeiten bietet ein anregungsreiches Lernmilieu, das dazu geeignet ist, individuelle Impulse und Potenziale jedes einzelnen Kindes zur Entfaltung zu bringen. Dazu zählen unter anderem die Betonung handwerklich-künstlerischer Tätigkeiten und musisch-ästhetischer Erfahrungen. Das Bild vom Kind in der Waldorfpädagogik kann einen spirituellen und ethischen Rahmen geben für ein die Individualität achtendes, respektvolles und vorurteilsbewusstes Miteinander. Nicht zuletzt könnte das Bestreben, eine Schulgemeinschaft mit allen Beteiligten zu gestalten, dazu beitragen, dass sich jede:r gleichermaßen einbringen und auch Unterstützung erfahren kann.
Aus diesen Potenzialen der Waldorfpädagogik, einen Beitrag zum Abbau von Bildungsungleichheiten leisten zu können, lässt sich auch eine Verantwortung ableiten. Ich denke, aktuell steht dieses wertvolle pädagogische Angebot gerade denen weniger zur Verfügung, die in besonderem Maße davon profitieren könnten. Die oben genannten Barrieren abzubauen, sollte ein dringendes Anliegen für die Waldorfbewegung werden.
Diese Frage betrifft die Zugänge zu waldorfpädagogischen Bildungseinrichtungen vom Kindergarten an, also das Risiko der Exklusion von Familien und Kindern mit bestimmten Merkmalen. Darüber hinaus liegt auch eine Aufgabe darin, innerhalb dieser Einrichtungen ein vorurteilsbewusstes und benachteiligungssensibles Umfeld zu schaffen, in dem allen Kindern und ihren Familien aus unterschiedlichen Lebenslagen mit Wertschätzung, Empathie und Respekt begegnet wird. Der Weg zur Verwirklichung einer solchen inklusiven Kultur beginnt damit, die eigenen Vorurteile, Urteile und Wertvorstellungen sowie das Zusammenspiel verschiedener Privilegien beziehungsweise Benachteiligungen zu reflektieren.
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