Beim pädagogischen Fortbildungstag 2016 der Regionalen Arbeitsgemeinschaft der Freien Waldorfschulen Rheinland-Pfalz/ Saarland/ Luxemburg in Bexbach lautete das Thema »Spiritualität in der Erziehung«. Christof Wiechert führte dazu im Schlussreferat aus, er sehe die Waldorfschule in ihrer Substanz gefährdet, wenn nicht wieder mehr Spiritualität – oder anders ausgedrückt Anthroposophie – in das Kollegium, in den Organismus »Schule« einziehen würde.
Wie schaffen wir es also, Lehrer zu gewinnen, die sich sowohl fachlich als auch »spirituell« in die Schule einbringen wollen? Legen wir als Eltern überhaupt noch Wert auf eine Waldorfausbildung? Reicht es uns nicht, wenn die Kinder am Ende einen guten Abschluss haben? Wenn wir als Eltern Waldorflehrer haben wollen: Wie stehen wir selbst zur Anthroposophie? Wollen wir Anthroposophie in der Schule? Ist sie uns, wie Steiner in den »Leitsätzen« schreibt, ein »Herzens- und Gefühlsbedürfnis« und so wichtig wie »Hunger und Durst«?
Auf dem Mutterboden der Anthroposophie
Nun, Steiner hat auch klargestellt, dass Anthroposophie kein Unterrichtsfach sein soll. »Die Waldorfschule ... ist keine Weltanschauungsschule. Wir haben nicht ein Interesse daran, etwa Anthroposophie theoretisch wie eine Religion an die Kinder heranzubringen.« Daneben steht aber ganz eindeutig seine Forderung, Waldorflehrer und -lehrerinnen müssten in der Anthroposophie drinstehen. Denn diese Pädagogik sei, wie alle anthroposophischen Unternehmungen aus dem »Mutterboden der Anthroposophie herausgewachsen« und diesen könne man weder als Waldorfschul-Lehrer, noch als Forscher, noch als Mediziner verleugnen. »Sonst«, so Steiner weiter, »könnte zwar eine Zeitlang in jeder dieser Unternehmungen Leben sein, weil die Anthroposophie als solche wirklich Leben enthält und geben kann, aber es könnte dieses Leben nicht auf die Dauer unterhalten werden. Es würde versiegen auch für die einzelnen Unternehmungen« (GA 257, S. 84).
Hier findet sich der Gedanke wieder, den Christof Wiechert in Bexbach ausführte. Wir brauchen für ein Fortbestehen der Waldorfschule das Bedürfnis nach Anthroposophie in der Lehrerschaft.
Bedenkenswert halte ich die Aussage Steiners, dass er die Waldorfschule nicht für überlebensfähig hält, wenn der einzelne Lehrer von der Anthroposophie nichts wissen möchte, von ihr nicht durchdrungen ist und sie nicht anerkennt.
Der »zündende Geist«
In der Abschlussbemerkung des Dokumentes »Wesentliche Merkmale der Waldorfpädagogik«, verabschiedet von der »Internationalen Konferenz der waldorfpädagogischen Bewegung« (Haager Kreis) steht: »Zusammenfassend kann man sagen: Eine Schule ist dann eine Waldorf-/Rudolf-Steiner-Schule, wenn eine Majorität der Lehrer vom zündenden Geist lebt. Dieser macht Schweres leicht, Unmögliches möglich und erhellt das Dunkel.«
Wie wahr es ist: Der »zündende Geist« soll im Kollegium leben. Das ist der Unterschied zwischen den Waldorfschulen und anderen Schulen: Dass sie versuchen, die Verbindung zwischen der geistigen und der irdischen Welt herzustellen.
Ich kenne Lehrer, die schon oft die Erfahrung gemacht haben, dass es manchmal die allerletzte Möglichkeit ist, sich an seinen Engel zu wenden, um einem Schüler zu helfen. Es sind dadurch schon echte Wunder geschehen. Allerdings sagen diese Lehrer meistens, dass sie nicht gerne davon erzählen, da es doch für viele Leute befremdlich sei, von »Engeln« oder anderen geistigen Wesen zu hören. Genügt es andererseits, wenn eine »Majorität« der Lehrer von diesem Geist lebt, wie der Haager Kreis feststellt? Steiner wollte noch das gesamte Kollegium durchdrungen wissen, heute genügt uns eine Majorität? Haben wir denn in unseren Kollegien überhaupt noch eine Majorität?
Rückbesinnung ist für die Zukunft unabdingbar
Was tun? Niemand kann von einem Anderen verlangen, sich mit der Anthroposophie zu beschäftigen. Wie schaffen wir es, sie ins Bewusstsein der Lehrer und Eltern zu bringen?
In unserer Schule in Mainz kam bei der letzten Elternratssitzung der Gedanke auf, eine pädagogische Versammlung zum Thema »Wer sind wir? Wo gehen wir hin?« abzuhalten. Auch hier lag das Bedürfnis vor, nach den Grundlagen des Organismus Waldorfschule zu suchen, um Zukünftiges zu gestalten. Dies könnte der Versuch sein, mittels der Menschenkunde von 1919 die Probleme der Gegenwart zu begreifen und den Weg in die Zukunft zu beschreiten.
Bevor wir 100 Jahre Waldorfschule feiern, sollten wir in uns gehen und uns auf die Gründungsimpulse besinnen. Bedenken wir, dass die Waldorfschule Stuttgart die wirklich einzige freie Waldorfschule war. Heute gibt es zwar viele Waldorfschulen überall auf der Welt, aber welche sind im Sinne Steiners wirklich »frei«?
Die Waldorfschule entstand aus dem Gedanken der Dreigliederung. Täte es uns nicht gut, diesen Impuls für ein freies Geistesleben aufzugreifen gerade auch im Hinblick auf das hundertjährige Jubiläum? Sonst könnte es sein, dass wir feiern, wie die meisten Menschen heutzutage Weihnachten oder Ostern: laut, lustig und »besinnungslos«, ohne ein Bewusstsein für die Bedeutung des Festes.
Zum Autor: Andreas Deibele ist Schülervater an der Freien Waldorfschule Mainz und begleitet musikalisch die Kindergarteneurythmie.
Literatur: R. Steiner: Anthroposophische Leitsätze (GA 26), Dornach 1998; ders.: Anthroposophische Gemeinschaftsbildung (GA 257), Dornach 1989; ders.: Idee und Praxis der Waldorfschule (GA 297), Dornach 1998; ders.: Die Aufgabe der Anthroposophie gegenüber Wissenschaft und Leben, GA 77a, Dornach 1997; ders.: Erziehungs- und Unterrichtsmethoden auf anthroposophischer Grundlage, GA 304, Dornach 1979