Ausgabe 11/24

Wandlungsfigur statt Schreckgestalt

Anne Brockmann

Wenn wir im November unseren Blick nach oben wenden, sehen wir die Sonne nur noch selten. Durch kahle Baumkronen blicken wir in den Himmel. Die Äste der Bäume ragen nackt und knochig in die Weite. Die Blätter, die sich vor kurzer Zeit noch bunt bewegt haben, liegen auf dem Boden. Wie ein Teppich bedeckt das Laub die Erde – raschelnd und rutschig. Die Kraft der Bäume zieht sich in deren Innerstes zurück. Ihre Blätter haben die Bäume abgeworfen, um den Winter überstehen zu können. Was sich in diesen Wochen in der Natur einmal mehr vollzogen hat, benannte Goethe in folgenden Worten: «Der Tod ist ein Kunstgriff der Natur, um viel Leben zu haben.» Für Stefan Grosse trifft diese Aussage genau das, was der Religionsunterricht den Schüler:innen an Waldorfschulen vermitteln sollte, wenn es um die Themen Tod und Sterben geht. Grosse hat über Jahrzehnte hinweg selbst als Klassen- und Religionslehrer an der Freien Waldorfschule in Esslingen gewirkt. Er ist außerdem Mitglied im Vorstand des Bundes der Freien Waldorfschulen. Grosse sagt: «Der Tod darf Kindern und Jugendlichen nicht als Schreckgestalt begegnen. Vielmehr sollen sie ihn als ein Teil des Lebens begreifen, der seinen ganz eigenen Gesetzmäßigkeiten folgt. Genau wie vielen anderen Phänomenen liegt ihm eine Berechtigung, ja sogar eine Notwendigkeit zugrunde.»

Wie über den Tod sprechen?


Wenn Grosse die Themen Tod und Sterben mit Schüler:innen der Mittel- und Oberstufe besprechen wollte, hat er das gern mithilfe hypothetischer Fragen getan. «Was wäre, wenn es den Tod nicht gäbe?» Oder auch: «Was wäre, wenn es die Fähigkeit, zu vergessen, nicht gäbe? Wenn wir Menschen nicht vergessen könnten?» In Grosses Berufspraxis hätten solche Fragen die Schüler:innen zu der eigenen Erkenntnis geführt, dass der Tod und auch das Vergessen die Voraussetzung dafür sind, dass etwas Neues in der Welt entstehen kann. Eine andere Möglichkeit, sich dem Thema mit Schüler:innen zu nähern, sei der Umgang mit Naturphänomenen, Bildern und Geschichten, die das Wesen des Todes offenbaren. Bei den Naturphänomenen nennt Grosse zum Beispiel die Schmetterlinge. Sie müssen ihr Leben als Raupe hinter sich lassen, um als Falter durch die Luft zu fliegen. «Die Schmetterlinge zeigen uns, dass Tod und Sterben nichts Endgültiges implizieren, sondern vielmehr Veränderung anstoßen. Tod und Sterben läuten einen Transformationsprozess ein, eine Wandlung. Das machen die Schmetterlinge deutlich», so der ehemalige Religionslehrer. Mit diesem besonderen Wesensmerkmal würden sie immer auch einen Fingerzeig, oder besser einen Flügelzeig, in Richtung des gesamten Christentums machen. Denn Grosse sagt: «Das ganze Christentum macht ohne den Tod keinen Sinn. Der Weg Christi vom Karfreitag zum Ostersonntag ist das stärkste Wandlungsereignis, das wir fassen können.» Ein Märchen, mit dem Grosse gern gearbeitet hat, wenn es darum ging, den Zusammenhang von Leben und Sterben aufzuzeigen, war Der Gevatter Tod von den Gebrüdern Grimm. Darin war der 13. Sohn eines armen Mannes dank einer Patenschaft durch den Gevatter Tod zum berühmtesten Arzt auf der ganzen Welt geworden. Nachdem er allerdings zweimal das Gebot des Gevatters missachtet hatte, die Genesung eines schwer kranken Menschen nicht gegen seinen Willen herbeizuführen, wurde er vom Gevatter in eine unterirdische Höhle geführt. In der Höhle sah der junge Arzt «wie tausend und tausend Lichter in unübersehbaren Reihen brannten, einige groß, andere halbgroß, andere klein. Jeden Augenblick verloschen einige, und andere brannten neu auf, also daß die Flämmchen in beständigem Wechsel zu sein schienen. ,Siehst du‘, sprach der Tod, ,das sind die Lebenslichter der Menschen‘». Als Konsequenz dafür, den Gevatter Tod hintergangen und zwei Menschen aus seinem Besitz entrissen zu haben, erlosch in der Höhle auch das Lebenslicht des Arztes, er «sank zu Boden und war nun selbst in die Hand des Todes geraten». Mit dieser Wendung beleuchtet das Grimmsche Märchen nicht nur die Frage nach dem Tod im Allgemeinen, sondern auch die Frage nach dem Suizid. Die hätte sich laut Grosse um das neunte Schuljahr herum immer wieder als Thema bei den Heranwachsenden gestellt. «Der junge Arzt hat sich mit seinen Entscheidungen über die Gesetzmäßigkeiten des Todes hinweggesetzt, hat den Gevatter bewusst getäuscht und dafür mit dem Leben bezahlt. Der Kreislauf von Leben und Sterben ist zu hoheitsvoll, als dass wir Menschen einzugreifen bräuchten. Das habe ich den Schüler:innen an dieser Stelle bewusst machen wollen», erzählt Grosse, der mit dieser Botschaft stets noch eine weitere an die Jugendlichen hat herantragen wollen. «Jeder einzelne Mensch auf Erden ist hier, weil er eine ganz individuelle Lebensaufgabe hat. Mit dieser Aufgabe umzugehen, sich mit ihr auseinanderzusetzen, an ihr zu wachsen – dafür trägt jede:r einzelne die Verantwortung. Das Wissen darum oder ein starkes Empfinden davon können in einer existenziellen Krise lebensentscheidend sein», ist Grosse überzeugt. Einen neuen Impuls, diese Aufgabe zu suchen und zu ergreifen, erfahren Menschen nicht selten durch ein sogenanntes Nahtoderlebnis. Auch dieses besondere Phänomen nimmt vor allem in der neunten Jahrgangsstufe viel Raum ein. Grosse hat erlebt, dass die Beschäftigung damit und die Schilderungen von Betroffenen seinen Schüler:innen Zuversicht geben konnten.

Geschichten vom Jenseits
 

Was aus dem Umgang mit der eigenen Lebensaufgabe entstehen kann, erzählt eine Geschichte von Georg Dreißig, einem Pfarrer der Christengemeinschaft. Auch die hat Grosse in seinen Religionsstunden in der Unterstufe gern erzählt. In Großvaters letzter Geschichte beschreibt Dreißig, der Autor zahlreicher Bücher ist, das Sterben als Übertritt in einen schönen Garten, der hinter einer Wildrosenhecke liegt. Der Garten gehört einem jungen Mann – mit goldenem Haar, leuchtenden Augen und einem Blumenkranz auf dem Haupt, der Menschen dorthin einlädt, weil er Gesellschaft liebt. Wer in den Garten eintritt, und nicht wie der Enkel in der Geschichte vor dem Tor warten muss und nur hinübersehen kann, den führt der junge Mann zu einem eigenen Beet, in dem ganz besondere Blumen wachsen – all die, die aus denjenigen Samen hervorgegangen sind, die die einzelnen Menschen gesät haben. Dieses Beet müssen die Menschen weiter pflegen. Manchmal aber, da schicken sie eine einzelne Blüte oder auch einen kleinen Strauß nach drüben auf die andere Seite der Wildrosenhecke. Auch das ist ein Motiv, das Grosse an seine Schüler:innen weitergeben wollte: «Verstorbene Menschen sind nicht verschwunden, sie begleiten diejenigen, mit denen sie verbunden sind, von einer anderen Ebene aus.»

Raum für Akzeptanz


Bei den Kindern und Jugendlichen seien diese Inhalte meist auf eine große Akzeptanz gestoßen. Und auch im konkreten Fall eines Verlustes von Elterteilen oder Geschwistern, den Grosse als Klassenlehrer mehrfach begleitet hat, seien ihm die jungen Hinterbliebenen oftmals weniger verloren vorgekommen als die Erwachsenen. «Ich glaube, das liegt daran, dass Kinder noch weit mehr als Erwachsene mit einer Haltung in der Welt stehen, die das, was um sie herum geschieht, als gottgegeben annehmen kann», vermutet Grosse. Nichtsdestotrotz stellt der Tod eines Elternteils, eines Geschwisterkindes oder eines anderen nahen Angehörigen immer einen tiefen Einschnitt im Leben von Hinterbliebenen dar – ob Kind oder Erwachsener. Und die Perspektive auf Tod und Sterben, die der Religionsunterricht gibt, ist kein allumfassender Trost. «Traurigkeit, Schmerz, Verzweiflung und Ratlosigkeit haben genauso ihre Berechtigung und müssen auch Raum bekommen», sagt Grosse. Er plädiert auch dafür, Kinder nicht an einer bestimmten Stelle des Sterbe- oder Abschiedsprozesses außen vor zu lassen, sondern hält ein Kontinuum für wichtig. «Überall dort, wo eine Lücke in unserem Erleben entsteht, füllen wir sie mit Annahmen oder Vorstellungen, von denen wir nicht wissen, wie wir sie handhaben können. Was konkret und greifbar ist, damit aber können wir umgehen lernen. Was dagegen im Nebel bleibt, kann uns überwältigen», erklärt Grosse, der froh und dankbar ist, dass dieses große Thema nicht nur im Religionsunterricht einen Platz hat. «In Form von Naturgeschehen, Bildern, Märchen und Geschichten durchziehen Tod und Sterben die ganze Kindheit und die ganze Schulzeit und das ist auch gut so», findet er.

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