Warum denn in die Ferne schweifen?

Susanne Bregenzer

Wieso wollen wir Menschen überhaupt Urlaub machen?

Rudolf Steiner spricht davon, dass die wichtigste Verbindung zur Außenwelt des Menschen das Atmen ist. »Das Kind kann noch nicht innerlich richtig atmen, und die Erziehung wird darin bestehen müssen, richtig atmen zu lehren.« Mir fiel das Zitat wieder ein, als ich begann, über den Urlaub, über das Reisen nachzudenken. Atmen ist Rhythmus. Atmen ist Anspannung und Entspannung. Das ganze Leben atmet in diesem Rhythmus.

Auch im Zusammenleben mit Kindern kennen wir dieses Prinzip, oder? Gerade jetzt, da wir seit einem Jahr sehr viel Zeit mit unserer Familie verbringen, haben wir es deutlich zu spüren bekommen: Da gibt es die Zeiten, die fließen, in der die Kinder spielen, Harmonie herrscht, dann wieder wird alles durchgerüttelt, Langeweile kommt auf, die Kinder streiten, alles scheint zu klemmen.

Steiner weiter über das Atmen: Wenn es eine Störung bei der Atmung gibt, dann ist es immer eine Störung des Ausatmens. – Sehr passend für diese Zeit, in der es so viele Familien im Alltagsstress gibt. Oft sind Familien wirklich darin gefangen, zu erledigen, abzuhaken, durch die Wochen zu rasen. Arbeit, Hobbys, Schule, Einkaufen, Haushalt, Zahnspange, Reifenwechsel, Hausaufgaben, Instrument üben – der Terminkalender ist rappelvoll. Mit manchen Familien schafft man es kaum noch, sich einfach so zu treffen und das ist ja auch verständlich, denn sie kämpfen damit, zu Atem zu kommen, überhaupt Zeit zu finden und nicht hektisch durch sie hindurch zu hecheln! Anspannung und Aktivität ist genügend da, doch wie kommen wir zum Ausatmen? Müssen wir dafür weit reisen? Möglichst viel sehen? Möglichst weit fort gehen?

Der Kabarettist Dieter Nuhr sagt über den Urlaub von Familien: »Entweder hast du Urlaub, oder du hast Kinder.« Hat er damit etwa recht? Wenn wir aber das Prinzip des Atmens nehmen, werden wir sehen, dass wir mit Kindern eben erst lernen müssen, auszuatmen.

Der All-Inclusive-Urlaub am Strand, von morgens bis abends nur liegen und sonnen, funktioniert in der Tat nicht mehr. Wir müssen nach den Kindern schauen, ihre Bedürfnisse befriedigen und weiterhin für sie da sein. Sie fordern uns auf ihre Weise und sie lassen das nicht sein, nur weil Mama oder Papa jetzt Urlaub haben.

Ich kenne viele Familien, die berichten, die ersten »Ferien« mit den eigenen Kindern waren ein ziemlicher Absturz: Die Erwartung, wirklich entspannen zu können, frei zu haben, frei zu sein, war immer noch da, aber das funktionierte Nicht. Der Aufschlag war hart.

Wenn es auf die Reise geht

Unsere reiselustigen Freunde berichten uns vom Reisen. Anstrengend sind die Reisevor- und nachbereitung. Dazwischen kommt dann aber die tolle Zeit, in der Entspannung da ist, in der Neues entdeckt wird, in der man den Blick über den Tellerrand werfen kann.

Da ist die innere Unruhe, Aufregung, die hohe Präsenz, weil wir uns in unbekannte Gefilde begeben. Wir sind wacher, neugieriger dem Unbekannten gegenüber. Und das Staunen lässt uns innehalten, genießen, die fremdartigen Eindrücke tief in uns aufnehmen. Das ist ein Bündel von Erinnerungen, das sich von allen anderen abhebt, etwas, das du mitnimmst, auch in deinen Alltag.

Nicht umsonst heißt es beim Reisen, dass wir neue Horizonte entdecken können, denn so ist es ja wirklich. Egal, ob wir nun weit weg fahren oder eben »nur« in die Schweiz oder nach Italien oder sogar im eigenen Land bleiben, zum Beispiel in Norddeutschland. Wir sehen und erleben im Äußeren Dinge, die wir sonst nicht sehen und erleben. Wir treffen andere Menschen, hören eine andere Sprache oder einen fremden Dialekt. Und wenn wir z.B. Ferien auf dem Bauernhof machen, erleben wir ganz andere Rhythmen, Regeln, Lebensweisen. Außerdem werden wir auf der Reise garantiert auch Abenteuer erleben. Kleine und große. Und daran wachsen wir. Wenn wir heimkehren, erscheint uns unsere Welt irgendwie kleiner, überschaubarer, leichter zu meistern. Und vielleicht erleben wir sogar, wie schön unser Zuhause uns jetzt wieder erscheint, die Annehmlichkeiten, wie wir es uns eingerichtet haben, all das Bekannte und Alltägliche und unsere Freunde.

Und wenn die Reise jetzt nicht stattfinden kann?

Im letzten Jahr hatten wir als Familie das erste Mal eine kleine Reise geplant. Wir wollten mit Freunden nach Österreich fahren. Unsere Kinder voller Vorfreude: Endlich fahren wir in den Urlaub! Die äußeren Einschränkungen halten uns nun erneut zu Hause. Jetzt muss die Reise ein weiteres Jahr hier Zuhause stattfinden.

Auch der Urlaub im eigenen Zuhause braucht eine Woche Vor- und eine Woche Nachbereitungszeit: Das ist anstrengend. Auch wenn wir überhaupt nicht packen müssen, ist es uns bereits in Fleisch und Blut übergegangen, dass das »Ankommen« in der Entspannungsphase für alle Familienmitglieder Zeit braucht. Und genauso zum Schluss die innere Vorbereitung darauf, dass der Urlaub jetzt zu Ende geht. Vorstellungen, Wünsche, Ansprüche, Bedürfnisse müssen im Urlaub ankommen, in der Ausatmung. Manchmal ist es noch heute eine Überraschung, dass Urlaub nicht nur »Nichts-Tun« ist. Wir sprechen darüber, was wir uns im Urlaub wünschen und doch bleibt es immer ein Abenteuer, ob es wirklich klappen wird.

Ich stelle mir vor, die ganze Familie würde am Anfang des Urlaubs mithelfen, die Wohnung sauber zu machen, sodass wir in die Entspannung gemeinsam hineingehen können. Das führt oft zu Widerstand und Konflikten. Jetzt haben wir doch frei! Wieso müssen wir jetzt zuerst aufräumen? Die Kinder fragen schon am ersten Morgen (5:30 Uhr), was wir machen und wen wir besuchen. Wir Eltern wollen ein bisschen ausschlafen. Etwas länger liegen bleiben. Das Ganze mit Ruhe angehen. Irgendwie hineinschlendern, in den Tag, etwas, was wir sonst nicht können. Das stößt auf Unmut. Die Bedürfnisse prallen aufeinander. Die ganze Familie rüttelt sich in den Urlaub hinein, wie auf einem holprigen Pfad auf einer wilden Safari. Mit anderen »Nicht-Reise-Familien« habe ich darüber gesprochen, ob sie auch schon versucht haben, mal eine Woche wirklich nichts zu tun, außer das Nötigste – als wäre man auf Reisen. Das klappt nicht richtig, haben wir übereinstimmend festgestellt, der Haushalt bleibt ja. Die ungemachte Wäsche, das dreckige Bad, die sandigen Fußspuren auf dem Küchenboden, der Hund, mit dem man Gassi gehen muss. Und trotzdem gibt es irgendwann einen eigenen Urlaubsrhythmus, ein ruhigerer Atem, der nach dieser einen Woche Ankommen zuverlässig auftaucht und unsere Familie durchzieht. Mein Mann kommt mehr zum Gitarre üben und ich öfter zum Schreiben. Die Kinder spielen und reisen zum Nordpol, zum Mond und in ihre eigenen, erfundenen Länder, wie »Eugenjo«, in das mein Kleinster immer wieder reist. Sie erzählen sich davon, ihre Phantasie ist riesig und das Reich, das sie aufbauen, füllt sie ganz von innen aus. Es ist eine innere Reise, die jetzt stattfinden kann, für die jetzt Zeit ist. Und plötzlich haben die Kinder Ideen, was sie machen könnten. Sie bauen sich ein Lager im Garten und spielen dort. Dafür gibt es während der Woche im Alltag eigentlich keine Zeit. Bis man aufgebaut hätte, muss man schon wieder aufräumen. Und wir selbst können tun, was wir schon längst gerne (!) getan hätten.

Denn wie die echte Reise braucht auch die innere Reise eine gewisse Disziplin und Übung und ganz viel Kraft für Entscheidungen: Was wünsche ich mir? Und ist das wirklich wichtiger, als den Keller aufzuräumen? Vielleicht werden einem diese Entscheidungen auf einer Reise manchmal leichter gemacht. Wenn ich in Italien bin, kann ich definitiv den Keller nicht aufräumen.

Oder kann ich beginnen, mich damit zu befassen, welche inneren Reisen mir eigentlich für mein Leben ganz wichtig sind? Und mich mit meinen Werten auseinanderzusetzen. Ist es genauso viel wert, einen ordentlichen Keller zu haben, oder einen halben Tag im Garten lesend in der Sonne zu liegen? Die innere Reise hält auch dieses Abenteuer für mich bereit.

Und die Langeweile?

Zuhause Urlaub, das ist doch langweilig. Oder? Was ist eigentlich Langeweile? Welches Kind kennt sie nicht? »Mir ist so langweilig, Mama. Was soll ich tun?« Mein mütterlicher und pädagogischer Rat: Langweile dich weiter. Langweile dich so lange, bis dir was einfällt. Denn Langeweile ist nichts anderes, als was der Bauer und der Gärtner darunter verstehen, fruchtbaren Boden für neues Wachsen zu bereiten. Langeweile muss man zulassen und genießen lernen. Denn Langweile bedeutet Leere, Ruhe, die wir in unserem Alltag oft so vermissen. Einfach mal Löcher in die Luft zu starren und kein schlechtes Gewissen dabei haben. Denn ohne Langweile kommen keine Ideen. Oft laufen wir vor der Langweile krampfhaft davon, beginnen in Aktivität auszubrechen, weil ein Kind sich langweilt. Machen den Pausenclown für sie. Jedoch verhindern wir so dieses innere Blühen, dieses innere Wachsen, in die Ideen und die Phantasie hinein. Langweile ist der Boden, auf dem die innere Reise wachsen kann.

Auch der Urlaub ist Atmen

An einem Tag treffen wir uns mit Freunden oder planen einen Ausflug, am anderen Tag tun wir nichts. Im optimalen Urlaub unternehmen wir sogar gerne zwei Tage nichts, denn dann ist mehr Zeit für Langeweile und die Ideen können viel besser wachsen.

Jedoch freuen wir uns alle im Urlaub sehr darauf, unsere befreundeten Familien endlich wieder zu besuchen, frühere Freunde, Freunde aus der Umgebung. Im letzten Jahr haben wir sehr viel unseren »Nahraum« erkundet: Heimatkunde. Kleine Reisen, bei denen wir Neues sehen, bei denen wir erleben und aufnehmen und am Abend und am nächsten Tag alles verarbeiten und tief »einatmen«. Und für unsere Kinder ist es ein sicheres und schönes Gefühl, die eigene Heimat gut zu kennen. Am liebsten mit befreundeten Familien: Denn auch die kleine Reise klappt am besten mit Freunden.

Zur Autorin: Susanne Bregenzer ist ehemalige Waldorfschülerin an der Waldorfschule Rengoldshausen, ausgebildete Jugend-Heimerzieherin, dreifache Mutter in Elternzeit und Elternbloggerin bei familienuniversum.de