Ausgabe 05/24

Warum ein Waldorflehrer eine eigene Schule gründete

Jürgen Beckmerhagen


Die Achtziger Jahre in Deutschland waren eine Zeit des Umbruchs und der Verunsicherung, die aber auch von Aufbruch und Innovation geprägt war. Bürger:innen engagierten sich in politischen Protesten und gesellschaftlichen Reformen, motiviert von der Sorge um einen Atomkrieg und wirtschaftliche Veränderungen. Diese Zeit war auch geprägt von pädagogischen Erneuerungen, was sich in der landesweiten Gründung von Waldorfkindergärten und -schulen manifestierte.

Albert Benning, Biologie- und Sportlehrer, ließ sich von der reformorientierten Aufbruchstimmung inspirieren. Er wollte das starre Bildungssystem verlassen und einen Ort finden, an dem er seine reformpädagogischen Ideen umsetzen konnte. 1986 trat er im Alter von 37 Jahren der Kieler Waldorf-Schulgemeinschaft bei und war anfangs begeistert. «Dann starb die Gründungspersönlichkeit. Viel zu jung. Sie hat mit Autorität und Charisma das Zusammenhalten gefördert und wir erreichten viel. Und jetzt stand die Frage im Raum, wie man sich organisieren muss, um effizient zu arbeiten. Das zog sich durch», erinnert sich Benning. Seinen Mentor, der Benning inspirierte und zu mehr Verantwortung ermutigte, nennt er respektvoll «Gründungspersönlichkeit». Benning übernahm die Geschäftsführung, wurde eine treibende Kraft, aber beobachtete auch, wie sich das Kollegium in Selbstverwaltungsdebatten verstrickte.

1997 forderte Bundespräsident Roman Herzog die Deutschen zu Reformen und einem gesellschaftlichen «Ruck» auf, besonders hinsichtlich des Bildungssystems. Die Dringlichkeit dieser Reformen wurde durch die Ergebnisse der ersten PISA-Studie im Jahr 2000 unterstrichen, die Verbesserungen der Bildungsstandards und Effizienz des Systems nahelegten.

Nach unzähligen Diskussionen über Bildungsreformen gründete Albert Benning 2002 die Bildungsstiftung Schleswig-Holstein, um innovative Schulkonzepte zu entwickeln. «Der Andrang war enorm. Drei Stifter stellten sogleich das Kapital bereit und namhafte Persönlichkeiten schlossen sich der Stiftung an», erzählt Benning.

Zeitgleich wollte der Club of Rome in Deutschland eigene Schulen gründen. Die Organisation bemüht sich weltweit um Lösungen für komplexe Herausforderungen unserer Zeit. Neben Bildungsfragen befasst sie sich zum Beispiel auch mit dem Umweltschutz und der nachhaltigen Entwicklung. Das Land Schleswig-Holstein begrüßte das Vorhaben der Organisation und verwies die Initiator:innen auf die Stiftung von Benning. Der fühlte sich durch diese Anerkennung geehrt, stand aber vor der Herausforderung, eine Schule von Grund auf neu zu gestalten. In zwei Jahren entwickelte er zusammen mit Expert:innen aus verschiedenen Bereichen ein Konzept für eine solche Schule. «Die Einigkeit über die Kernmerkmale einer solchen Schule – langes gemeinsames Lernen, individuelle Förderung, Teamleitung – war eine Offenbarung.»

Benning präsentierte seine Erkenntnisse dem Stiftungsrat und der Kieler Waldorfschule. Obwohl Benning ursprünglich beabsichtigte, Innovationen wie ein breiteres pädagogisches Spektrum in die Kieler Waldorfschule zu integrieren, stieß er dort auf Grenzen und entschied sich für die Neugründung der Lernwerft.

In den Anfangstagen finanzierte sich die Ersatzschule überraschend unkompliziert. Benning: «Nach einem Nachmittagsgespräch mit einem Hamburger Banker der GLS-Bank stand unsere Finanzierung. Er kam, hörte sich unser Vorhaben an und sagte: ‹Wir finanzieren das.› Trotz einiger Höhen und Tiefen war der Prozess im Rückblick erstaunlich geradlinig. Es passte.»

Um Lehrkräfte für seine neue unabhängige Ersatzschule zu gewinnen, setzte Benning auf ein klares Konzept: «Lehrkräftemangel war nie das Thema. Wir zogen Lehrkräfte an, die das Neue suchten. Alles war nicht bis ins letzte Detail festgelegt, aber unsere Vision war klar – das war ausschlaggebend und hat sie überzeugt.»

Im Jahr 2006 nahm die Schule ihren Betrieb mit einer ersten und einer fünften Klasse auf. Ursprünglich sollte es drei Jahre lang dabei bleiben. Benning betreute im ersten Jahr noch seine Abiturient:innen an der Waldorfschule, bevor auch er zur Lernwerft wechselte. Angesichts der hohen Nachfrage startete bereits im zweiten Jahr eine weitere fünfte Klasse. Heute besuchen rund 540 Schüler:innen die Schule, aufgeteilt in Klassen zu höchstens 25 Kindern.

Benning schloss seine Schule sofort an «Blick über den Zaun» an, einen Zusammenschluss reformorientierter Bildungseinrichtungen. Die Mitgliedschaft in diesem Netzwerk verlangt regelmäßige Begutachtungen der Unterrichts- und Schulpraktiken durch Lehrkräfte anderer Schulen, um Anregungen zur Verbesserung auszutauschen. Außerdem sieht sie kontinuierliche Weiterbildungen vor. Drei Lehrkräfte begannen unverzüglich eine Fortbildungsreihe, was die Schule von Anfang an stärkte. Dieser Schritt etablierte einen fortwährenden Verbesserungsprozess. «Die Workshops, die wir anbieten, werden kontinuierlich begleitet und supervidiert. Dies ist essenziell, da es über das reine Erzählen hinausgeht und gewährleistet, dass das Gelernte auch tatsächlich umgesetzt wird», erklärt Alexander Mattheus. Er wechselte 2022 von der Geschäftsführung der Augsburger Waldorfschule an die Lernwerft-Spitze. Benning weiter: «Da die Interaktion zwischen Schüler:innen und Lehrer:innen mit der Zeit zunimmt, ist es unerlässlich, Lehrkräfte in Empathie zu schulen, wobei man auf die eigene psychische Gesundheit achten muss.» Er erwähnt das Programm «Empathie macht Schule», das auf Jesper Juuls Konzepten basiert, und betont die Notwendigkeit, trotz steigender Belastungen handlungsfähig zu bleiben.

Benning betont, dass die Individualisierung des Unterrichts, die sich auf verschiedene kognitive Ebenen wie Ordnung und Vorstellungskraft konzentriert, den Zusammenhalt zwischen Schüler:innen mit unterschiedlichen Stärken fördert.

Gregor Kölsch, der seit neun Jahren an der Lernwerft ist und als Sprachrohr der Schulleitung fungiert, berichtet von einem Oberstufenprojekt, das Segeln und Wissenschaft verknüpfte. Schüler:innen setzten sich über Jahre mit einem Forschungsthema auseinander und gipfelten in eigenen Studien zu Algen und Aquakultur, die drei Schüler:innen auf einer internationalen Konferenz in Göteborg vorstellten.

Die Lernwerft pflegt den Epochenunterricht. Benning kann seine Waldorfwurzeln nicht leugnen. Allerdings dauert hier eine Epoche nur zwei Wochen und mittwochs ruht dieser rhythmische Unterricht. In der Lernwerft bleiben die Schüler:innen von der Einschulung bis zum Abitur im gleichen Klassenverband. Noten gibt es erst ab Klasse acht und Klassenwiederholungen sind selten. Die schulischen Abschlüsse umfassen ESA in Klasse neun, MSA in Klasse zehn und Abitur am Ende der dreizehnten Klasse. Benning und Kölsch wollen den Schüler:innen künftig zusätzlich Kompetenzen in Form eines Portfolios bescheinigen: «Das umfasst zum Beispiel Recherche- und Gruppenarbeitskompetenzen sowie Teamfähigkeit.»

Was unterscheidet die Lernwerft sonst noch von einer Waldorfschule? «Es gibt weniger Veranstaltungen als an Waldorfschulen», unterstreicht Benning, «weil das Herzstück unserer Schule die pädagogische Arbeit mit den Kindern ist. Das Engagement der Eltern bleibt ein vitaler Aspekt des Schullebens.»

In den 17 Jahren seit ihrer Gründung hat sich die Lernwerft unter Albert Bennings Leitung und mit Hilfe des Netzwerks «Blick über den Zaun» sowie externer Berater:innen deutlich weiterentwickelt. Strukturen wurden etabliert, die von Alexander Mattheus und dem sechsköpfigen Team um Gregor Kölsch fortgeführt werden. Die Komplexität von Schulgründungen spiegelt sich darin wider, dass die Lernwerft bis heute die einzige neugegründete Club-of-Rome-Schule geblieben ist.

Kommentare

Es sind noch keine Kommentare vorhanden.

Kommentar hinzufügen

0 / 2000

Vielen Dank für Ihren Kommentar. Dieser wird nach Prüfung durch die Administrator:innen freigeschaltet.