Am 30. März 2025 jährt sich zum hundertsten Mal der Todestag Rudolf Steiners, des Begründers der Anthroposophie und der Waldorfpädagogik. Er hat der Nachwelt ein gewaltiges Werk hinterlassen, das bis heute viele Menschen herausfordert und inspiriert, bei den einen tiefe Bewunderung erweckt und von anderen rigoros abgelehnt wird. Dieses Werk besteht aus rund 30 Schriften, zahlreichen Aufsätzen und Meditationstexten, tausenden Vortragsmitschriften und vielen Kunstwerken aus den Bereichen Architektur, Malerei, Bildhauerei, Kostüm- und Bühnenbildnerei sowie Anleitungen zur Eurythmie und zur Rezitationskunst. Die Herausgabe von Rudolf Steiners Nachlass in einer Gesamtausgabe (GA) soll bis zum Ende seines hundertsten Todesjahres weitgehend abgeschlossen sein und wird damit rund 64 Jahre gedauert haben – genau so lange wie das Menschenleben seines Erschaffers.
Ziel: rund 450 Bände
Diese Aufgabe hatte Marie Steiner von Sivers, die Lebensgefährtin und ab 1914 Ehefrau Steiners, 1943 dem eigens dafür gegründeten Verein zur Verwaltung des literarischen und künstlerischen Nachlasses von Dr. Rudolf Steiner gestellt, dem sie vier Jahre später auch ihre Rechte am geistigen und physischen Eigentum der Werke ihres Ehemannes übertrug, kurz bevor sie verstarb. Diese Tat entfachte einen Sturm der Entrüstung in der Anthroposophenschaft, da man das Werk Steiners nicht außerhalb des Goetheanums in einem Verein verwaltet sehen wollte. Es kam zu einem mehrjährigen Gerichtsprozess, infolgedessen dem Nachlassverein rechtgegeben wurde. So begann in den 1950er Jahren die Planung der Gesamtausgabe, und 1961, im hundertsten Geburtsjahr Steiners, veröffentlichte Hella Wiesberger, die sogenannte Architektin der Gesamtausgabe, einen Editionsplan, nach dem bis heute die Werke Steiners herausgegeben werden. Dieser Plan hat seither manche Erweiterung erfahren. Damals dachte man, man könne das Werk in 330 Bänden herausgeben, inzwischen werden es aber bis zum Jahr 2026 an die 450 Bände sein, die digitale Veröffentlichung der rund 640 Notizbücher und rund 7.000 Notizzettel nicht miteingeschlossen. Diese wird über 2025 hinaus noch einige weitere Jahre in Anspruch nehmen.Es ist Marie von Sivers, der späteren Frau Doktor Steiner zu verdanken, dass sich Rudolf Steiner am Beginn des 20. Jahrhunderts darauf einließ, Generalsekretär der deutschen Sektion der Theosophischen Gesellschaft zu werden, einer Bewegung, die ihm zunächst höchst suspekt erschien. Damit war die Voraussetzung für die Entstehung der Anthroposophie geschaffen, die sich aus dem theosophischen Milieu heraus entwickelte. Bereits 1907 hat Steiner Marie von Sivers sein Werk testamentarisch vermacht und 1908 gründete sie einen Verlag, in dem sie seine Werke über 40 Jahre hinweg, bis zu ihrem Tod am Ende des Jahres 1948, herausgab. Aufgrund des Nachlasskonflikts in den 1950er Jahren konnte die Publikation der Gesamtausgabe dann nicht mehr in diesem Verlag erfolgen, der an das Goetheanum angeschlossen war. So entstand der heutige Rudolf Steiner Verlag, in dem die GA erscheint.
Marie Steiners Organisationstalent
In Marie Steiner hatte der Begründer der Anthroposophie einen Menschen gefunden, dem er nicht nur seine tiefe persönliche Zuneigung, sondern auch sein volles Vertrauen schenken konnte. Sie war äußerst diszipliniert und strukturiert, kümmerte sich nicht nur um die Publikation seiner Werke, sondern auch um die Angelegenheiten der Theosophischen, später der Anthroposophischen Gesellschaft sowie um die Organisation seiner zahlreichen Vortragsreisen in ganz Europa. Wie er in seiner Autobiografie schreibt, schätzte er an ihr vor allem, dass sie nicht sentimental war, also den esoterischen Inhalten gegenüber nüchtern und sachlich bleiben konnte, und dass sie die anthroposophischen Ideen in das allgemeine Kulturleben hineinzustellen vermochte, anstatt sich sektiererisch von ihm abgrenzen zu wollen. Genau dies aber kritisierte Steiner heftig an vielen Mitgliedern seiner Bewegung. Sein Anliegen war es nicht gewesen, eine neue Glaubensgemeinschaft zu begründen, sondern das soziale und geistige Leben seiner Zeit mit neuen Impulsen zu befruchten. Marie Steiner fühlte sich dem Öffentlichkeitsprinzip verpflichtet. Das «zerstückelte, umhergestreute» Werk Steiners sollte «in seiner Totalität» wiederhergestellt werden. Es sollte als «geordnetes, chronologisch, fachlich und inhaltlich gegliedertes Ganzes» herausgegeben werden, damit zukünftige Generationen sich einen Überblick darüber verschaffen könnten. Wenn sie auch selbst eingestehen musste, dass vermutlich «drei Leben» nötig sein würden, um sich durch die Fülle von Steiners Gedanken hindurchzuarbeiten.
Nachlass mit enormem Umfang
In den Gründungsstatuten des Nachlassvereins, der 2015 in eine Stiftung mit gleichem Namen und identischem Auftrag umgewandelt wurde, steht neben der Aufgabe der Herausgabe von Steiners schriftlichem und künstlerischem Werk auch die «Obhut, Verwaltung und Pflege» desselben. Da dieses Werk über tausend Regalmeter Schriftmaterial, mehr als tausend großformatige Wandtafelzeichnungen, diverse Modelle, Möbelstücke, Kleinodien und andere Objekte umfasst, kann man sich vorstellen, welch eine strukturelle und konservatorische Herausforderung damit verbunden ist. Zumal sich das Archiv ausschließlich aus privaten Zuwendungen und Stiftungsgeldern finanzieren muss.
Obwohl die finanziellen Mittel oft sehr knapp waren, hat das Archiv in den vergangenen Jahrzehnten große Arbeit geleistet. In der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts wurde die Herausgabe der GA tatkräftig in Angriff genommen. In den 1990er und 2000er Jahren sind die Wandtafelzeichnungen, die Steiner zu seinen Vorträgen gestaltete, um die Welt gereist und haben ein internationales Publikum in ihren Bann gezogen. Unter David Marc Hoffmann, dem aktuellen Leiter, wurde das Archiv zu einem offenen Haus mit öffentlichem Lesesaal ausgebaut, wobei der Abschluss der GA bis zum Jahr 2025 im Fokus stand. Wenn die GA demnächst vollständig vorliegen wird und der Stab an die neue Teamleitung übergeben sein wird, kommen ganz neue Aufgaben auf das Archiv zu. Dann kann zum einen die Erforschung von Steiners schriftlichem und künstlerischem Erbe so richtig losgehen, zum anderen gibt es noch viel im Bereich der Erschließung der Archivalien zu tun. Und es soll eine Dauerausstellung im Haus Duldeck entstehen, in der die unmittelbare Begegnung mit den Werken des Gelehrten und Künstlers ganzjährig möglich sein wird. Darüber hinaus ist angedacht, Veranstaltungen zu organisieren, und zwar solche, die einen niederschwelligen Zugang zu Steiners Gedankenkosmos ermöglichen, wie auch solche, die erfahrene Wissenschaftler:innen aus verschiedenen Fachgebieten zusammenbringen. Und junge Menschen sollen durch Forschungsstipendien dazu angeregt werden, sich mit dem Werk des Begründers der Anthroposophie tiefer auseinanderzusetzen. Kurzum, das Archiv soll zu einem Forschungs- und Begegnungsort ausgebaut werden, an dem ein lebendiger Austausch und offener Umgang mit den Ideen Steiners stattfinden kann.
Neue Möglichkeit für wissenschaftliches Arbeiten
Eine wichtige Aufgabe der nächsten Zukunft wird sein, die Bestände des Archivs durchgehend zu inventarisieren, katalogisieren und in einer Archivdatenbank zu erfassen, damit sie der Öffentlichkeit für Recherchezwecke zur Verfügung gestellt werden können. Hier steht noch viel Arbeit bevor, die Jahre, wenn nicht Jahrzehnte in Anspruch nehmen wird. Es gibt bisher keine digitale Erfassung des Bestands, die es Nutzer:innen ermöglichen würde, online nach dem von ihnen benötigten Material zu suchen, es anzufordern oder gar anzuschauen. In jedem einzelnen Fall ist bislang eine persönliche Anfrage und dann oft Anreise nötig, um das Material vor Ort im öffentlichen Lesesaal einzusehen. Nach der Fertigstellung der digitalen Ausgabe der Notizbücher und Notizzettel wird daher weiteres, in der GA nicht berücksichtigtes Material – wie etwa Briefe an Rudolf Steiner oder von ihm mit Unterstreichungen und Kommentaren versehene Buchseiten – online zugänglich zu machen sein. Ein weiteres Tätigkeitsfeld der kommenden Jahrzehnte könnte die Ausarbeitung von kommentierten historisch-kritischen Zusatzbänden zur bestehenden GA sein oder zumindest die wissenschaftliche Grundlagenarbeit für eine zukünftige Herausgabe von Steiners Werk in diesem Sinne. Die GA war bisher in erster Linie als Leseausgabe konzipiert, auf ausführliche Kommentare, Verweise auf das geistige Umfeld, die Quellen und die Geschichte einzelner Begriffe sowie auf das Aufzeigen von Entwicklungslinien innerhalb des Steinerschen Werks wurde weitgehend verzichtet. Die Anregung zu einer historisch-kritischen Ausgabe seiner schriftlichen Werke gab Steiner selbst wenige Wochen vor seinem Tod in seiner Autobiographie. Ehrenfried Pfeiffer, ein deutsch-amerikanischer Anthroposoph und Naturwissenschaftler, hatte einen entsprechenden Editionsplan noch zu Lebzeiten Marie Steiners veröffentlicht und die Anthroposoph:innen dazu aufgerufen, diese gewaltige Aufgabe gemeinsam anzugehen. Und es sind in den letzten Jahren auch schon einzelne Studienausgaben mit Variantenvergleichen und ausführlichen Kommentaren im Rahmen der GA entstanden. Seit 2013 erscheint außerdem die auf 16 Bände angelegte «SKA», die kritische Ausgabe der Schriften Steiners. Diese von Christian Clement im Verlag frommann-holzboog herausgegebene Reihe liefert einen kommentierten Variantenvergleich der verschiedenen Ausgaben von Steiners Schriften. Das Steiner-Archiv hat sich aber das Erstveröffentlichungsrecht für die Handschriften und korrigierten Druckfahnen vorbehalten.
Vermittlung im 21. Jahrhundert
In jedem Fall wird es in der Zukunft weiterhin Neuauflagen von vergriffenen Bänden aus der GA geben, die durchgesehen und je nach Editionsstand auch grundlegend überarbeitet und auf ein den heutigen Standards entsprechendes Niveau gebracht werden müssen. Und schließlich stellt sich grundsätzlich die Frage, wie die Ideen eines Menschen, der vor hundert Jahren verstorben ist und in einer Sprache sprach und schrieb, die uns heute nur noch bedingt zugänglich ist, im 21. Jahrhundert vermittelt werden können? Wie seine Gedanken, die durchaus die Färbung seiner Zeit tragen, weiter befruchtend wirken und die Zeitgenossen zu individuellen Antworten auf die Probleme und Krisen unserer Zeit anregen können? Die authentische Überlieferung seiner Worte, das Offenlegen seines Ringens um Erkenntnis und um ein sinnvolles Wirksamwerden in der Welt sowie die Begegnung mit der inspirierenden Kraft seiner Schöpfungen scheinen mir der beste Weg, dies zu ermöglichen.
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