«Free the nippels» fordert ein Pappplakat auf dem Schulhof der Freien Waldorfschule Hannover-Bothfeld.
Mit authentischen, schönen, inspirierenden und intimen Fragen haben sich die Schüler:innen einer sechsten Klasse dem Thema Sexualität genähert. Sexualität ist häufig immer noch ein Tabuthema, gerade an Waldorfschulen, wo manche Klassenlehrkräfte Berührungsängste vor diesem Thema haben und manche Eltern ihre Kinder vor einem zu frühen Kontakt mit Fragen zu Geschlecht und Indentität bewahren wollen. Dabei haben Kinder und Jugendliche viele Fragen zu Sex, Körper und Liebe. Doch es gibt selten Raum, diesen Fragen angemessen zu begegnen. Für viele Schüler:innen ist das Internet die einzige Informationsquelle.
An der Widar Schule in Bochum Wattenscheid hat eine erfahrene Klassenlehrerin zwei Einheiten Sexualpädagogik unterrichtet. Eine in der fünften Klasse, dann eine zweite in der sechsten Klasse. Dazu lud die Klassenlehrerin die Hebamme Kristina Ostmann ein, die mit den Schüler:innen einige theoretische Grundlagen zu den Themen Anatomie, Zyklus, Verhütung, Selbstbestimmung, wertschätzender Umgang und Fragen rund um die LGBTQI+ Community erarbeitete.
Zuvor hatte die Klassenlehrerin zwei Kisten in der Klasse aufgestellt, in die die Schüler:innen anonym Zettel mit Fragen werfen konnten. Die Kisten waren beschriftet mit: «Was ich schon immer mal einen Jungen fragen wollte» und «Was ich schon immer mal ein Mädchen fragen wollte». Im Anschluss an den theoretischen Input durch Kristina Ostmann wurde die Klasse nach Geschlecht geteilt. Die beiden Gruppen wurden dann, mangels eines männlichen Kollegen, durch die Hebamme Kristina Ostmann und mich als Schulsozialarbeiterin betreut. Gemeinsam wurden die Fragen gelesen und besprochen. Es wurde gemeinsam entschieden, ob die Frage der anderen Gruppe beantwortet werden soll oder ob es sich um eine zu persönliche Frage handelt, die die Schüler:innen nicht beantworten möchten. Im Anschluss haben sich die Gruppen die Fragen gegenseitig vorgelesen.
Über 150 Fragen wurden gestellt. Die meisten davon haben sie auch selbst beantwortet. Pro Gruppe dauerte das etwa vier Stunden. Dadurch hatten die Schüler:innen den Raum und die Zeit, sich über viele Themen auszutauschen. Nicht selten gab es überraschte Reaktionen zu einigen Themen. Die Frage der Mädchen an die Jungen «findet Ihr es schön, wenn wir uns schminken?» wurde beispielsweise beantwortet mit «Macht so, wie Ihr Euch wohlfühlt! Wir finden nicht, dass es darauf ankommt.» Umgekehrt fragten die Jungen die Mädchen, ob sie viel Wert auf Muskeln legen würden. Die Antwort der Mädchen war: «Muskeln sind schon schön, aber sie sind auch egal, denn uns ist wichtiger, dass ein Junge freundlich und liebevoll ist.»
Häufig wird behauptet, junge Menschen wären oberflächlich, nur noch darauf bedacht, in jedem Moment «instagrammable» – ein Begriff der definiert, ob etwas attraktiv genug ist, um beispielsweise bei Instagram gepostet zu werden – zu sein. Doch aus den Antworten, die ernsthaft und aufrichtig gegeben wurden, lassen sich andere Schlüsse ziehen. Diese jungen Menschen haben das Bedürfnis nach echter Begegnung, nach ehrlichem Austausch und ihnen sind Werte jenseits von Äußerlichkeiten wirklich wichtig.
«Habt Ihr schon mal einen Porno gesehen?» oder «Habt Ihr schon mal masturbiert?» waren auch Fragen, die interessierten. Fragen, die sich vermutlich viele junge Menschen über ihre Peer-Group stellen, die aber scheinbar selten geschlechterübergreifend ausgesprochen werden. An dieser Stelle soll Mut gemacht werden, sich mit einer Peer-Group orientierten Sexualpädagogik auseinanderzusetzen und diese in der Schule anzubieten. Wer könnte diese Fragen beantworten als diejenigen, die sie betreffen? Erwachsene, Eltern und Lehrer:innen können in der Regel etwa 500 Mal wiederholen, dass es wichtigere Dinge als Äußerlichkeiten gibt. Trotzdem eifern viele junge Menschen idealisierten und im Ernstfall sogar KI-generierten Idealen nach, die nicht der Realität und ihren eigenen Möglichkeiten entsprechen. Es kann für die Jugendlichen heilsam sein, von ihren Mitschüler:innen zu hören, dass es für sie Dinge und Werte gibt, die wichtiger als das Äußere sind. Und ja, um auf die oben genannten Fragen zurück zu kommen: Auch Sechstklässler:innen haben teilweise Pornos gesehen, haben zum Teil schon ihre Monatsblutung und sind interessiert an einem wertschätzenden Austausch zu diesen Themen, wenn der dafür notwendige Rahmen gegeben ist.
Hier kann Schule einen guten Beitrag leisten. Also weg mit den Berührungsängsten zu Themen rund um Sexualität! Nutzen wir die Freude und Neugier der Schüler:innen und bieten ihnen Räume, um sich jenseits des Internets mit Themen rund um Freund:innenschaft, Zugehörigkeit, Sexualität, Wertschätzung und Selbstbestimmung auseinandersetzen zu können.
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