Sie meinte «ja», griff aber die Anregung nicht weiter auf. So dauerte es noch eine Weile, aber seit 1912 wurde tatsächlich eine solch neue «Raumbewegungskunst» entwickelt. Maßgeblich daran beteiligt waren zunächst die junge Lory Smits, die «erste Eurythmistin», und Marie von Sivers, Steiners enge Mitarbeiterin und Lebensgefährtin. Auf sie geht auch die Bezeichnung «Eurythmie» zurück.
Eurythmie ist kein Tanz im gängigen Sinn; allenfalls kann man sie in der Tradition sakraler Tänze sehen, etwa des griechischen Tempeltanzes. Ziel ist auch nicht, dass der tanzende Mensch (wie es den heutigen Mentalitäten entspräche) seine aktuellen Empfindungen und spontanen Impulse zum Ausdruck bringt, Ziel ist sozusagen etwas Objektives: in der menschlichen Bewegung eine tiefere Wirklichkeit sinnlich anschaubar zu machen. Steiner nannte die Eurythmie auch eine «sichtbare Sprache», indem sie dasjenige auf den ganzen Körper überträgt, was sich sonst an unsichtbaren Bewegungen beim Sprechen vollzieht und was empfindungsmäßig in Lauten und Buchstaben lebt. Eurythmie kann aber auch «sichtbarer Gesang» sein, wenn ein Musikstück «eurythmisiert» wird.
In Steiners Verständnis ist die Eurythmie etwas Neues und zugleich Uraltes. Alles Sprechen sei ursprünglich Bewegung und Gebärde gewesen (was bis heute nachwirkt, wenn wir unsere Worte mit Mimik und Gestik begleiten). Und diese Einheit von Inhalt und Bewegung sei auch sinnvoll, weil ein bloßes Sprechen in Wörtern und Begriffen niemals ausreichen könne, um der lebendigen Wirklichkeit der Welt gerecht zu werden. Wo sonst Mund und Kehlkopf sprechen, spricht in der Eurythmie der ganze Mensch.
Dies kann – das liegt auf der Hand – auch eine heilsame, therapeutische Wirkung haben. Aus dieser Einsicht ging die Heileurythmie hervor. Auch die pädagogische Bedeutung erschließt sich sofort, wenn es um eine ganzheitliche, nicht nur verstandesmäßig-kognitive Erziehung geht. So wurde die Eurythmie schon bei der Gründung der ersten Waldorfschule 1919 Unterrichtsfach, und sie ist es bis heute. – Nicht von allen geliebt, das ist wahr. Dies mag ein Zeichen für mögliche Schwächen der pädagogischen Umsetzung sein, aber es ist wohl auch ein Symptom für eine tief widersprüchliche Zeit: für eine verkopfte Epoche, die förmlich nach dem Sinnlichen und Seelischen schreit, es aber dort, wo es ihr begegnet, oft verspottet und veralbert.
Ausgabe 06/24
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