Ausgabe 10/24

Was ist die Christengemeinschaft?

Wolfgang Müller

Hintergrund war die verbreitete Empfindung, dass die kirchlichen Traditionen ihre einstige Kraft und Lebendigkeit verloren hätten. Die evangelische Tradition erschien vielen der jungen Theologen als zu nüchtern und predigtlastig, ohne Sinn für die Bedeutung von Kult und Liturgie. Auch Steiner fand, die Messe sei keineswegs «das unbedeutende Ding, das das evangelische Bewusstsein gern aus ihr machen möchte». Die katholische Tradition wiederum (aus der Steiner selbst stammte) galt vielen, auch ihm selbst, als zu dogmatisch und autoritär. In Steiners Augen stellte sie sich, wo es ging, gegen das für unsere Epoche so wesentliche Erkenntnisverlangen; sie stellte sich entsprechend auch gegen jede freie, eigenständige Geistesforschung, wie sie die Anthroposophie anstrebt.

Ziel der im September 1922 gegründeten Christengemeinschaft war demnach ein zeitgemäßer Kultus, eine neue Form, «Übersinnliches im Sinnlichen» erlebbar zu machen. Gleich zu Beginn wurden die ersten Priesterinnen und Priester geweiht. Steiner selbst gehörte nicht zu ihnen, er sah sich nur in einer helfenden, inspirierenden Rolle, die aber zweifellos in jeder Hinsicht prägend war. Insgesamt aber hielt er daran fest: «Nicht Sekten bildend will Anthroposophie auftreten; eine Dienerin will sie sein der Religionen, die schon da sind, eine Wiederbeleberin des Christentums will sie sein in diesem Sinne.»

Heute gibt es – strikt getrennt von der Anthroposophischen Gesellschaft – Gemeinden der Christengemeinschaft in aller Welt und es gibt eigene Priesterseminare in Stuttgart, Hamburg und Toronto. Die Gottesdienste der Christengemeinschaft, Menschenweihehandlung genannt, kann jeder besuchen. Viele erleben hier einen Ernst und eine Gegenwärtigkeit des Geistigen, wie sie heute selten sind.

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