Im Jahr 2022 ging ich in den Ruhestand, als mein letzter Englisch-
Abiturjahrgang die Schule verließ. An unterschiedlichen Enden der Skala standen meine Klasse und ich vor der Frage «Was jetzt?». Einige in meiner Klasse wussten die Antwort, andere nicht. Meine Antwort war, die etwa 300 Kilometer der «Via di Francesco» von Assisi nach Rom zu Fuß zu gehen.
Im Frühjahr 2023 las ich einen Artikel über eine junge Frau namens Siarah, die zwischen ihrem 21. und ihrem 24. Lebensjahr 2000 Kilometer von Süd- nach Norddeutschland mit einem Pferd, einer Ziege und später einem weiteren Pferd gelaufen war. In Gesellschaft ihrer Tiere und doch ganz allein. Es war eine außergewöhnliche Antwort auf die Frage «Was jetzt?». Die Welt als Schule zu wählen und die Natur als Lehrerin.
Ich dachte, ihre Geschichte würde alle inspirieren, die sich im Anschluss an den Schulabschluss auf der Suche nach dem Danach befinden. Also nahm ich Kontakt zu ihr auf, traf sie und sie erzählte mir ihre Geschichte. Ich fand ihre Geschichte so anregend, dass ich sie gerne teilen möchte. Sie gibt einen Einblick in das, was in einer Welt möglich ist, die manchmal mit Unmöglichkeiten behaftet zu sein scheint.
Siarahs Gespür für die Natur ist Teil ihres Wesens, so als sei sie sich der Vielfalt des Lebens in Erde und Pflanzen bewusst und mit ihnen verbunden. Seit ihrer Kindheit war sie zutiefst beunruhigt über jede Beschädigung der Erde. Sie lernte, zu reiten und entwickelte eine tiefe Affinität zu Pferden. Die Trennung ihrer Eltern als sie zwölf Jahre alt war, erlebte sie als schmerzlichen Einschnitt in ihrem Leben. Gleichzeitig wurde sie im Gymnasium zu einem Mobbingopfer und die Schule wurde für sie zu einem Alptraum, den es zu überstehen galt. Die Natur und ihr Pferd wurden ihre engsten Freunde.
Mit etwa 14 Jahren entdeckte sie das Barfußlaufen. Sie stellte fest, dass ihr der direkte Kontakt mit der Erde Kraft gab. Es wurde zu ihrer täglichen Übung und zu einem Schutzschild gegen die Tyrannen. Dies führte dazu, dass sie alle Sportarten und dann alle Unterrichtsstunden ohne Schuhe absolvierte, bis sie jeden Tag barfuß war. Es war ein Akt der Selbstfindung und des Trotzes gegenüber den Widersachern, die sie nun nicht mehr belästigten.
Nach der Schule studierte sie Philosophie in Witten/Herdecke. Auf elterlichen Druck hin kombinierte sie dies mit Politik und Wirtschaft, was ihr nicht zusagte. Sie wollte lieber von der Natur lernen und so begann sie mit den Vorbereitungen für eine lange Reise, auf der sie ausschließlich im Freien leben würde. Ihr Pferd Cordelio würde das Gepäck tragen. Sie hatte vor, die gesamte Strecke barfuß zu gehen und so in Kontakt mit der Natur zu sein. Sie würde vom Frühling bis zum Herbst wandern. Theoretisch in der warmen Jahreszeit. Sie legte den Start auf März 2020 fest. Corona kam und damit die Angst und die Regeln. Die Leute sagten ihr, dass das, was sie tun würde, gefährlich, töricht und unmöglich sei. Sie nahm das als Herausforderung an und machte trotzdem weiter, aber dieser März war kein freundlicher Monat. Am ersten Tag geriet sie hoch im Schwarzwald in einen Schneesturm und wäre fast erfroren, aber sie rettete sich in eine hohle Eiche. Sie hatte das Gefühl, dass die Natur, wenn auch nicht das Wetter, auf ihrer Seite war. Ein Bauer schenkte ihr Stiefel, die sie vor Erfrierungen bewahrten. Sie trug sie, bis das Wetter wieder wärmer wurde. Dies war Teil eines Prozesses, in dem sie das Wohlwollen von Fremden, Glück und Selbstvertrauen kennenlernte. Auf einem Bauernhof rettete sie eine weibliche Babyziege vor dem Schlachten, indem sie sie kaufte. Die Ziege trägt den Namen Alisha und ist inzwischen Siarahs ständige Begleiterin.
Es gibt keine allgemeingültige Antwort auf die Frage «Was dann?». Es ist eine individuelle Erkundung. Siarahs Reise ist ein mutiges Beispiel dafür, dass persönliche Hindernisse überwunden werden können, so schwierig sie auch erscheinen mögen. Sie zeigt uns, dass es Hoffnung gibt, wenn wir ehrlich zu uns selbst sind.
Meine ehemaligen Schüler:innen erforschen jetzt ihre eigenen Antworten. Ich bin weiter auf Pilgerpfaden unterwegs. Für mich lautet die Antwort, weiter zu entdecken und zu schreiben, denn die Welt ist besser und vielfältiger, als wir es uns vorgaukeln lassen – von ihrem äußeren Zustand, von Corona, von der Werbung, von den Medien, von Konventionen und von unseren eigenen Ängsten. Wir haben Angst davor, Fehler zu machen, aber was sind das für Fehler? Wie die Weisen sagen, sind sie nur Lerngelegenheiten.
Siarah ist der Überzeugung, dass der enge Kontakt mit der Erde, den Pflanzen und Tieren uns heilt und zur Heilung der Erde beiträgt. Sie hält sehr gerne Vorträge in Schulen. Die kann ich aus eigener Erfahrung sehr empfehlen. Normalerweise wird sie von Alisha begleitet, die an Menschen jeden Alters gewöhnt und stubenrein ist und mit dem Zug oder dem Auto reist.
Ausgabe 09/24
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