Ausgabe 07-08/24

Was werden – Durch Sozialpraktika das Innere entwickeln

Heidi Käfer
Heidi Käfer

Kindergarten, Schule, Studium, Job, Heirat, Familiengründung. So sieht die gesellschaftlich akzeptierte Version eines normalen Lebensverlaufs aus. Wie auf einer Rolltreppe steigt man von einem Meilenstein zum nächsten und kann sich dann mit 67 oder mehr Jahren und guter Rente endlich die Freiheiten gönnen, auf die bis dahin im Hamsterrad verzichtet werden musste. Erfahrungen zu sammeln ist in diesem Konstrukt häufig auf bestimmte Weise zweckgebunden, sprich: gut oder schlecht für den Lebenslauf. Abbiegungen und Schlangenlinien in der Curriculum Vitae gilt es so zu tuschieren und aufzuhübschen, dass daraus auf dem Papier eine kohärente Linie entsteht. Warum machen junge Menschen ein Freiwilliges Soziales Jahr? Nicht nur aus purer Neugierde und Interesse oder aus einem sozialen Verantwortungsgefühl heraus, sondern auch, weil «heutzutage darauf geachtet wird», «es gut ankommt» und man für den späteren Beruf zeigen kann, dass man flexibel, selbständig und weltzugewandt ist. So verhält es sich auch bei Praktika – sieht gut auf dem Papier aus. Dennoch selbstverständlich: Das Prinzip, für einige Wochen in einen Beruf reinzuschnuppern, ein griffiges Bild von einer Tätigkeit zu bekommen, zu schauen «liegt mir das eigentlich?», ist unschlagbar.

Mit 18 machte ich ein Praktikum bei einer Graphikdesignerin in Saarbrücken. Rachel Mrosek war eine gute Freundin meiner von mir so verehrten Kunstlehrerin. Kreativ wollte ich später arbeiten, irgendwas mit Kunst machen. In den Praktikumswochen war ich vor allem damit beschäftigt, akribisch Schriftgrößen und Fonts anzupassen und mich mit den Funktionsweisen eines Macintosh und Adobe Illustrator rumzuschlagen. So viel Leidenschaft und Ernst für Schriftarten, Textplatzierungen und Druckvorgaben aufzubringen, war nicht ganz begreiflich für mich, und mit meinem Fokus am Ball zu bleiben, harte Arbeit. Tägliches Highlight blieben bis zum Schluss die gemeinsamen Mittagessen auf der Terrasse und dort einen Einblick in das Leben dieser inspirierenden Persönlichkeit zu bekommen, die hinter meiner Praktikumsbetreuerin steckte. Wie sie ihr Leben und ihren Alltag gestaltete, das machte was mit mir. Und noch heute koche ich Rachels Pastagericht mit Zucchini und ganz viel Knoblauch. Praktika sind dazu da, Traum mit Wirklichkeit abzugleichen, noch bevor man seine Karten mutig auf eine Ausbildung oder ein Studium setzt. Und meiner Entscheidung, ein Praktikum zu machen, lag auch ganz sicher der unterschwellige Druck zugrunde, so schnell wie möglich rausfinden zu müssen, was ich werden will.

Werden meint da nicht etwa sowas wie zu einem Menschen zu reifen, der herausfindet, wie er glücklich leben kann, und imstande ist, Freude in sein Leben einzuladen, der in guter Gemeinschaft eingebettet ist, oder so ähnlich. Wir werden Berufstätige. Zwar sind die Zeiten der breiten Überidentifikation mit dem Beruf aus der Babyboomer-Generation längst ersetzt durch Werte wie Selbstverwirklichung, eine angenehme Work-Life-Balance bis hin zur Entstehung von Bewegungen, die das Bedingungslose Grundeinkommen fordern und gängiger werdenden alternativen Arbeitsmodellen. Trotzdem gibt es etwas in der deutschen Mentalität, das ziemlich fixiert ist auf Lohnarbeit und Karriere. In den drei Jahren, in denen ich in Neuseeland lebte, stellte ich mit Erstaunen fest, wie unwichtig es in meinem Umfeld war, was wer beruflich tat. Alle meine Freund:innen hatten gemeinsam, dass sie irgendwie kreativ waren. Haupt- oder nebenberuflich waren sie unter anderem Pharmazeutinnen, Barkeeper, Softwareentwickler, Gärtner:innen, Kunsttherapeuten, freischaffende Tänzerinnen, Köche und Babysitter. So eine bunte Mischung kannte ich aus meinem deutschen Umfeld nicht. Und wenn ich heute gefragt werde, was ich denn so mache, bemühe ich mich, die Frage auch mit den Stichworten zu beantworten, die mein aktuelles Leben sonst noch ausmachen, auch wenn mein Gegenüber vielleicht nur wissen will, auf welcher Matte ich Montagmorgens stehe.

Was ist also wenn in einen Berufsalltag reinzuschnuppern, nicht nur den Zweck erfüllt, die drängende Frage nach dem was werden zu beantworten? Praktika könnten den Zweck erfüllen, sich neu zu erleben, Neues zu verstehen, die Perspektive zu wechseln. An der Michaeli Schule Köln gehört das Absolvieren eines Sozialpraktikums in der elften Klasse zum Lehrplan. Dabei geht es am wenigsten um berufliche Orientierung, sondern vielmehr «um die innere Entwicklung», wie Silvia Loskamp, Deutschlehrerin an der Michaeli Schule, findet. Gerade in der elften Klasse. «Ich finde, das geht total auf. Ich begegne mir auch selbst, wenn ich sehe, was andere machen. Im Handwerk zu sein oder direkt mit Menschen zu arbeiten, ist da was ganz anderes.» Warum das auch aufgeht, erklärt sie mit der vor den Sozialpraktika stattfindenden Parzival-Epoche in Deutsch: «In dem Moment ist es den Schüler:innen nicht immer so klar, was das miteinander zu tun hat. Aber danach wird es das oft, weil es um Entwicklung geht. Am Anfang macht Parzival ganz schön viele Fehler und man fragt sich «Wieso denkt der eigentlich nicht selber?» Parzival ist eine Figur, an der man wachsen kann und die viele Erkenntnisse durch ihren Lebensweg aufzeigt.»

Alma ist 17 Jahre alt und wohnt in der Kölner Südstadt. Anfang des Jahres war sie für vier Wochen am Hospiz St. Hedwig. Zwei Jahre zuvor absolvierte schon Almas Schwester ihr Sozialpraktikum im Hospiz – eine glückliche Gegebenheit, denn Alma verbrachte ihre ersten beiden Praktikumswochen am Krankenhaus der Uniklinik, wo es ihr so gar nicht gefiel. «Ich habe mich da entweder so überfordert gefühlt oder war komplett unterfordert und habe meine Zeit abgesessen. Deswegen wollte ich einen neuen Platz haben.» Über den schon bestehenden Kontakt zum Hospiz fand Alma dann schnell eine Notlösung. Gleichzeitig wusste sie, dass sie sich auf einen Ort mit ganz besonderen Herausforderungen einlassen würde und womöglich direkt mit dem Thema Tod konfrontiert würde. Bereut hat sie den Wechsel nie.
Alma half in der Küche bei der Vor­bereitung des Frühstücks und des Mittagessens, war mit anderen Pfleger:innen zur Stelle, wenn ein Gast einen Wunsch hatte oder Hilfe beim Aufstehen brauchte. «Es gab immer Zeiten, zu denen ich viel gemacht habe, da war es dann auch ein bisschen stressig. Dort gibt es aber einen schönen Garten und eine Terrasse, da konnten wir uns zwischendurch ausruhen und mit den anderen Pflegern quatschen», meint sie. Entgegen Almas Erwartung überforderte sie die Begegnung mit dem Tod nicht. Und das, obwohl sie zweimal direkt mitbekam, wie ein Gast starb. «Das war gar nicht so krass, wie man sich das vorstellt, weil man es in Filmen gesehen hat», stellt Alma fest. Einen Fall erlebte sie, der ihr dennoch nachging: Für das Schreiben einer Biografie – eine zentrale Aufgabenstellung während des Sozialpraktikums – unterhielt sich Alma mehrere Tage lang intensiv mit einem Gast des Hospiz‘, der ihr von seinem spannenden Leben erzählte. Aber ehe Alma ihren Text fertigstellen konnte, verstarb ihr Protagonist. «Eigentlich wollte ich ihm noch ein Heft schenken. Als ich dann an sein Zimmer kam, war er nicht mehr da. Das war traurig», erinnert sie sich. Almas Betreuer:innen empfahlen deshalb, nicht in einen zu engen Kontakt mit den Gästen zu kommen, um einer starken Betroffenheit vorzubeugen. «Die sind ja dort, weil sie bald sterben, damit muss man rechnen», betont Alma. Bewusst wurde ihr vor allem die Erfahrung der Resonanz: «Ich fand's richtig toll zu sehen, dass, wenn ich freundlich bin, ich auch freundlich behandelt werde.» Auch einen sozialen Beruf könne sie sich, zumindest eine Zeit lang, vorstellen. Im Hospiz müsse das aber nicht unbedingt sein.

Auch ihre Mitschülerin Jette sieht sich nicht im Beruf einer Erzieherin. Der sei zu anstrengend. Da ist er, der Realitätsabgleich. Was Jette während ihres Sozialpraktikums in der Tageseinrichtung für Kinder mit und ohne Behinderung aber auch erkannte, war, wie prekär die Arbeitsverhältnisse der Erzieher:innen waren: «Ich habe gesehen, was die leisten und für mich war es echt anstrengend. Meine Kolleg:innen haben mir auch erzählt, dass es oft zu wenige Erzieher:innen gibt und sie zu wenig verdienen.» Laut Loskamp gehen die Schüler:innen sogar bei sehr anstrengenden und fordernden Praktika mit einer positiven Gesamterfahrung zurück in die Schule.
«Da kann es dann auch schwere Momente geben, wie in der Obdachlosenhilfe zum Beispiel. Aber man schafft das und das gibt ein gutes Gefühl.» Die Schüler:innen sollen sich laut Loskamp zwar wohlfühlen, aber gleichermaßen soll es herausfordernd sein. «Das hat was mit einem selbst zu tun, wo man gerade steht, das gibt Anlass, sich Gedanken über sich selber zu machen und dann begegnet man anderen Menschen und anderen Schicksalen, das macht was mit einem.» Genau deswegen freute sich Loskamp, als Alma beschloss, ihre Praktikumsstelle zu wechseln. Zu sehen, dass die Schüler:innen das Praktikum als echte Lernmöglichkeit sehen und ihre vier Wochen nicht einfach absitzen wollen, sei motivierend.

Neulich hörte Loskamp noch einen Radiobeitrag zu Forderungen, Schulen sollten mehr Sozialpraktika für Schüler:innen anbieten. Ob diese aus der Erkenntnis herauskamen, dass so eine Erfahrung wertvoll für die Biografie junger Menschen sein kann oder aus dem riesigen Fachkräftemangel im Sozialen Sektor, beantwortet sich vielleicht von selber. Zumindest können sich Loskamp und ihre Kolleg:innen sicher sein, dass die Michaeli Schule das mit dem was werden ein gutes Stück mehr auf parzivalsche Weise angeht.

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