Robyn, 21 Jahre alt, ist non-binär, identifiziert sich also weder als nur weiblich oder nur männlich. «Sowas gibts?», war die überraschte Reaktion der Großmutter, als Robyn im April 2022 in einer PowerPoint Präsentation vor der Familie die Vielfalt der Geschlechtsidentitäten vorstellte – und sich am Ende selbst outete. «Eine meiner größten Ängste vor dem Outing war, dass Leute nicht verstehen, dass es nicht-binär als Geschlechtsidentität wirklich gibt», erzählt Robyn. Mama Carolin, die – eher aus Versehen, wie Robyn sagt – schon früher Bescheid wusste, gibt zu: «Ich hatte von non-binär keine Ahnung.»
«Tolle Präsentation», befand Robyns Papa, auch wenn er danach noch eine Weile brauchte, um den richtigen Umgang mit der für ihn neuen Identität seines Kindes zu finden. Einzig für Robyns jüngere Geschwister Linn-Marie (16) und Levi (11) war das Outing keine große Sache. Bei der Arbeit, wo Robyn auf Nachfrage von Kolleg:innen schon zwei Monate vorher geoutet wurde, lief der Übergang problemlos. «Ich habe dort direkt ein neues Namensschild bekommen und meine Daten im System wurden geändert», erzählt Robyn. Als die Uni dann im Oktober losging, hat sich das ehemalige Waldorfschulkind aus Wuppertal gleich klar positioniert: «Ich bin Robyn und ich bin nicht-binär.»
Männlich, weiblich – und sonst nichts?
Junge oder Mädchen, Mann oder Frau: Der Dualismus der Geschlechter bestimmt unser Denken und Handeln sowie formt unser Zusammenleben seit langer Zeit. Wer weibliche oder männliche Geschlechtsmerkmale aufweist, ist eben auch weiblich oder männlich. Dieses binäre System wurde kaum hinterfragt. Seit 2018 gibt es in Deutschland mit divers erstmals eine dritte Kategorie für das Geschlecht im Geburtenregister. Hierunter werden alle Menschen zusammengefasst, die aufgrund ihrer körperlichen Merkmale in keine der beiden bisherigen Kategorien Platz finden. Einige bezeichnen sich auch als intersexuell.
Es gibt jedoch auch Menschen, die sich unabhängig von physiologischen Merkmalen weder dem weiblichen noch dem männlichen Geschlecht zugehörig fühlen. Sie verorten sich irgendwo dazwischen oder gar ganz woanders. Eben nicht-binär. Synonym für diese Bezeichnung steht auch der Begriff genderqueer. Geschlecht ist in diesem Sinne keine feststehende Kategorie, sondern wird als Spektrum des Möglichen betrachtet. Die geschlechtliche Identität kann sich auch verändern, wie es bei genderfluiden Personen der Fall ist. Sie fühlen sich an manchen Tagen eher dem einen, an anderen eher dem anderen Geschlecht zugehörig, oder mehreren gleichzeitig oder keinem.
Auf der Suche nach der eigenen Identität
Im Alter von 19 Jahren begann Robyn, das bei der Geburt zugewiesene Geschlecht zu hinterfragen. Mit einer Freundin, der es zu diesem Zeitpunkt genauso erging, konnte Robyn sich austauschen. Ebenso mit anderen Freund:innen. Mit zunehmender Klarheit war es für Robyn immer schwieriger, das Bekenntnis zu weder…noch vor allem vor der Familie geheim zu halten. Robyn und Carolin erinnern sich an eine Situation nicht lange vor dem offiziellen Outing. Robyn kam eines morgens zuhause die Treppe herunter und Carolin kommentierte spontan: «Heute siehst du aber genderneutral gekleidet aus.» Für Robyn ein kurzer Schreckmoment: Hat Mama was gemerkt? «Tatsächlich meinte ich damit gar nicht das, was ich ausgesprochen habe», erklärt Carolin im Nachhinein.
Als Robyn das erste Mal Männer-T-Shirts kaufen wollte, reagierte die Mutter zunächst mit Unverständnis. «Du hast gesagt, das sieht doof aus», erinnert sich Robyn an die Szene im Laden. «In dem Moment, wo das eigene Kind Männerklamotten kaufen will, denkt man nicht darüber nach, dass es gerade um die Geschlechtsidentität geht», verteidigt Carolin ihre damalige Reaktion. «Hier habe ich nicht gedacht, dass es irgendwas bedeuten könnte.» Robyn sei grundsätzlich schon immer ein sehr individuelles Kind gewesen, erzählt Carolin. Das habe sie jedoch nie mit dem Geschlecht in Verbindung gebracht.
«Willkommen im Club!»
Bis alle Familienmitglieder das mit dem neuen Namen verinnerlicht hatten, dauerte es dann noch ein bisschen. Vor allem die Erwachsenen taten sich in dieser Übergangsphase etwas schwer. Für Robyn war es indes eine große Erleichterung: Endlich lagen die Karten auf dem Tisch und es gab keine Heimlichtuerei mehr um ihre Identität. «Das Coming-Out hat meine Lebensqualität und das Verhältnis zu meiner Familie stark verbessert», sagt Robyn. Aktuell lebt sie (Anmerkung der Autorin: Robyn bevorzugt das weibliche Pronomen zur Anrede) noch zuhause und pendelt zur Uni nach Köln. Vor ihrem Coming-Out wäre das undenkbar gewesen. «Da fand ich es sehr anstrengend, zuhause immer mit dem falschen Namen angesprochen zu werden. Das hat mich relativ aggressiv gemacht.»
Für Carolin steht fest: «Es ist immer noch dasselbe Kind, nur mit einem anderen Namen.» Selbst die Großmutter habe sich viel Mühe gegeben bei der Umstellung auf die neue Ansprache, erzählt Robyn. Außerdem habe sie versichert, Robyn lieb zu haben, weil sie ihr Enkelkind sei – unabhängig von ihrem Geschlecht. Im Freundeskreis stieß Robyns Outing auf große Offenheit. Hier stellte sich hauptsächlich die Frage: Was sind deine Lieblingspronomen? Eine queere befreundete Person war sogar richtig begeistert, wie Robyn erzählt. «Die hat gesagt: Willkommen im Club! Schön, dass du auch dabei bist!» «Bei den heutigen Jugendlichen ist ein guter und normaler Umgang mit diesem Thema viel verbreiteter, als in meiner Generation», befindet Carolin.
Offener Umgang mit Gender und Vielfalt nötig
Wer bin ich? Was macht mich aus? Wer will ich sein? Das sind Fragen, die vor allem Heranwachsende beschäftigen. Die Auseinandersetzung mit dem eigenen Geschlecht und das Experimentieren mit unterschiedlichen Rollen gehört in dieser Lebensphase dazu. In Robyns Schulzeit an einer Waldorfschule war Geschlechtsidentität allerdings kein Thema, das innerhalb der Klasse oder im Unterricht zur Sprache kam. Zwar berichtet Robyn von einer befreundeten Person, die sich mit 17 als non-binär geoutet hat. Jedoch nur vor dem engeren Freundeskreis. Zu groß war die Angst vor Unverständnis und Mobbing seitens der Mitschüler:innen.
Eine Pädagogik, die sich offen mit dem Thema Gender und Vielfalt auseinandersetzt, würde vieles einfacher machen, findet Robyn. Während der Schulzeit war es für Robyn schwer, alleine mit dem Thema Sexualität zu sein und keine Unterstützung erfahren zu haben. «Schule sollte darüber aufklären, was für Genderidentitäten und Sexualitäten es gibt», fordert Robyn. Außerdem müssten Lehrkräfte mehr darauf achten, dass alle so akzeptiert würden, wie sie sind. Das beinhaltet für Robyn auch die Möglichkeit, das eigene Geschlecht und den Namen ändern zu können.
Einfach sein, wer man ist
Jugendlichen, die sich unsicher bezüglich ihrer geschlechtlichen Identität fühlen, empfiehlt Robyn: ausprobieren, informieren und austauschen. «Es tut gut, ein bisschen mit der Kleidung zu experimentieren: Wie fühle ich mich am wohlsten in meinem Körper?» Internetforen und Anlaufstellen queerer Communities böten überdies viele Informationen zum Thema und die Möglichkeit, Erfahrungen zu teilen. Außerdem rät Robyn, sich Unterstützung im engeren Freundeskreis und in der Familie zu holen. Diese könnten dabei helfen, den richtigen Ausdruck für die eigene Identität zu finden – vorausgesetzt es herrscht ein vertrauensvoller Umgang.
Denn auch wenn so ein Outing des eigenen Kindes viele Familien im ersten Moment etwas überfordert, sind die meisten doch lern- und anpassungsfähig. «Im Nachhinein betrachtet, hätte ich aufmerksamer auf Signale achten sollen, die auf Robyns inneren Prozess hingedeutet haben», reflektiert Carolin. «Es hätte uns definitiv gutgetan, wenn wir schon früher offen darüber geredet hätten.» Sie empfiehlt Eltern, sich grundsätzlich mit Gender und Identität auseinandersetzen und auch die Möglichkeit in Betracht zu ziehen, dass das eigene Kind damit ein Thema haben könnte. Der beste Umgang sei dann, ganz klar zu signalisieren: Ich habe dich lieb, egal welches Geschlecht oder welche Sexualität du hast.
Mit der gewählten Identität fühlt sich Robyn deutlich wohler und kann den Lebensweg beschreiten, der für sie passt. Hierzu gehören auch neue Freundschaften und vielfältige Kontakte in die Regenbogenszene. In Carolin hat das Coming-Out einen Lernprozess in Gang gebracht. Sie beschäftigt sich seither mit non-binären Lebensentwürfen und Transidentitäten. Auch die Großmutter erfährt nun durch ihr Enkelkind eine weitere Möglichkeit von Mensch-sein abseits der gängigen Einteilung. Denn wer oder was wir sind, bestimmen wir am Ende selbst.
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