Wenn ich wissen will, ob sich hinter einer Wandoberfläche ein Hohlraum befindet oder festes Mauerwerk, dann muss ich klopfen und hören. Das Auge reicht nur bis zur sichtbaren Wand und kommt dort an eine Grenze. Mit den Ohren eröffnet sich ein Zugang für das nicht mehr Sichtbare, für das Innere. Das ist Alltagspraxis für alle Maurer:innen und Handwerker:innen.
Alles Seelisch-Innerliche war offenbar
Ich habe meinen Zivildienst Mitte der 80er Jahre im Landesbildungszentrum für Blinde in Hannover gemacht. Mich hat beeindruckt, wie die blinden Kinder bereits an meinem Gang beim Eintreten in das Klassenzimmer und dann an meiner Stimme unmittelbar hören konnten, wie es mir heute geht. Es gab keine Chancen mit «guter Miene zum bösen Spiel» etwas zu verdecken – alles Seelisch-Innerliche war offenbar. In der pädagogischen Praxis von heute ist das der Normalfall: Die Kinder, die Jugendlichen und jungen Erwachsenen durchschauen ihre Lehrkräfte wie eine Glaskugel. Das Ungesagte ist anwesend wie das Gesprochene, unterdrückte Gefühle von beispielsweise Ärger oder Angst sind wirksam, als hätte man ihnen soeben Ausdruck verliehen. Besonders die Sphäre der Intentionalität, der Absichten und Vorhaben, wird nachhaltig gescannt und geprüft. Die oben zitierten Worte von Joseph von Eichendorff deuten auf diesen Zusammenhang und gehen noch einen Schritt weiter. Auf den Menschen übertragen könnte man mit Eichendorff sagen: In jedem Menschen schläft ein Lied, ein mit seinem innersten Wesen verbundener Ton. In älteren Kulturen war es üblich, im Rahmen der Totenfeier eines verstorbenen Menschen, dass ein Freund oder eine nahe Angehörige das «Eigenlied», den «Eigenton» des Verstorbenen gesungen hat, in welchem die Essenz seiner Individualität hörbar wurde.
Hörfähigkeit entwickeln
Die Ausbildung einer erweiterten Hörfähigkeit, der Entwicklung eines Hörens, das sich dem Wesen des Kindes zuwenden kann, bildet für mich eine zentrale Aufgabe zukünftiger Erziehungskunst. Man denke nur an die beflügelnde und aufbauende Wirkung, welche von einem Menschen ausgeht, der mir wirklich zuhört in dem, was ich sage und in dem, wie ich etwas sage; einem Menschen, der zuzuhören vermag, was ich eigentlich sagen möchte, wofür mir aber die Worte fehlen, und schließlich an die Wirkung von einem Menschen, dessen Hören mir das Aussprechen von Gedanken ermöglicht, die ich zuvor noch nicht gedacht habe.
In diesem Sinne gilt: Meine Wege zum Menschen hängen ab von der Kraft meines Hörens und sind somit gleichermaßen verbunden mit meinen Wegen zum Ton.
Musik
Eine besondere Bedeutung in dem Ganzen hat die Musik. Alle zuvor dargestellten Phänomene sind auch musikalische Phänomene und bilden die Grundlage der musikalischen Praxis und des Musikhörens. Ein musikalischer Ton ist immer schon innerlich da, bevor er in die sinnliche Hörbarkeit tritt. Er wird zunächst innerlich vorgestellt, vorgefühlt und vorgewollt und danach gesungen oder gespielt. Das ist entgegengesetzt zum Alltagshören, welches auf äußere Hörreize reagiert. Denn der musikalische Ton ist in der Sinneswelt nicht zu finden, sondern entsteht erst durch die schöpferische Mitwirkung des Menschen.
Keine andere Kunst kann uns so unmittelbar und tief berühren wie die Musik, unabhängig von Alter, Sprache und kulturellem Hintergrund. Warum ist das so? Warum kann Musik so stark wirken? Rudolf Steiner hat aus seiner Forschung den ursprünglichen Zusammenhang zwischen Mensch und Musik dargestellt: «Alle Gegenstände haben auf dem Grunde ihres Wesens einen geistigen Ton, und der Mensch selbst ist in seiner tiefsten Wesenheit ein solch geistiger Ton». An anderer Stelle formuliert Steiner so: «...was in den Tönen der Musik zum Menschen spricht: ‚Ich bin du, und du bist von meiner Art.‘» Man könnte so gesehen Ton und Mensch als «Artgenossen» bezeichnen, die denselben geistigen Ursprung haben.
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