«Der einhundertste Todestag von Rudolf Steiner bietet Gelegenheit, seiner zu gedenken, sich seiner Impulse zu erinnern und dankbar dafür zu sein. Aber er bietet auch Gelegenheit, sich ganz eindrücklich klarzumachen, dass er seit einhundert Jahren tot ist. Steiner forderte Zeitgenossenschaft, daher ist es an uns, die Tradition lebendig zu halten», sagt Hans Hutzel. Als Vorstandsmitglied des BdFWS sowie als Geschäftsführer für den Bereich Lehrer:innenbildung und Dozent in der Erwachsenenbildung hat er Visionen und konkrete Forderungen für die Zukunft von Waldorfpädagogik und Anthroposophie. «Nur wenn es uns gelingt, Steiner als eine historische Person zu betrachten, die wie der Rest der Menschheit auch fehlbar war und das Recht auf Irrtum hat, wird es uns gelingen, das, was er angeregt und hinterlassen hat, für das Heute fruchtbar zu machen», so Hutzel.
Wichtig sei ihm auch, einen klaren Umgang mit Steiners rassistischen Aussagen zu pflegen. «Steiners rassistische Aussagen, die definitiv als solche zu werten sind, lassen sich leicht mit seiner eigenen Weltanschauung widerlegen. Denn die Anthroposophie mit ihrer Idee vom Ich als viertem Wesensglied ist radikal universalistisch und radikal auf die Würde jedes einzelnen Menschen ausgerichtet. In einem solchen Menschenbild ist kein Platz für Zuschreibungen aufgrund der ‹Rasse›. In der Philosophie der Freiheit setzt er den einzelnen Menschen über den ‹Gattungsbegriff›. Eine Person kann nie vollständig aus der Zugehörigkeit zu einer Gruppe verstanden werden», erläutert Hutzel. Er vermutet, dass Steiner als Zeitgenosse einer rassismusgeprägten Epoche hier «einen blinden Fleck» hatte, sonst wäre ihm vermutlich selbst aufgefallen, dass das nicht zusammenpasst.
Der Typ an der Wand
Das Verhältnis von Waldorfpädagogik und Anthroposophie gehört für Hutzel ebenfalls zu den Dingen, die es für die Zukunft differenzierter zu betrachten und zu behandeln gilt. Klar sei, die Anthroposophie selbst solle weiterhin in Waldorfschulen nicht gelehrt werden. Hutzel findet jedoch, dass vor allem Oberstufenschüler:innen ein Recht darauf haben, zu erfahren, wer der Mann hinter der Pädagogik war, nach der sie zwölf, dreizehn Jahre zusammen lernen . «Wer ist der Typ, der für die Lehrkräfte so interessant ist und da an der Wand hängt? Das wollen und müssen die Schüler:innen doch wissen», sagt Hutzel. Und wer über Steiner und seine Impulse für die Pädagogik spricht, kommt nicht umhin, sein Menschenbild zu skizzieren. «Generell ist Pädagogik ohne Menschenbild undenkbar.», hält er fest. Der große Vorteil der Waldorfpädagogik sei, dass die Umsetzer:innen sich über das zugrundeliegende Menschenbild im Klaren seien und bewusst damit umgingen und ständig darum ringen, während das anderswo nicht immer der Fall ist. «Jedes Kind als ein weißes Blatt Papier zu sehen und zu denken, was andere draufschreiben oder draufmalen, bilde die Persönlichkeit – dahinter steht auch ein Menschenbild, auch eine bestimmte Vorstellung von Individualität», erklärt Hutzel. Ihm schwebt vor, Steiner in eine Reihe mit anderen pädagogisch wirksamen Persönlichkeiten zu stellen, um den Oberstufenschüler:innen eine Orientierung zu geben. Starke Kontraste könnten dabei hilfreich sein.
In der Zukunft könne es jedoch keineswegs darum gehen, Waldorfpädagogik und Anthroposophie von anderen Disziplinen abzugrenzen oder sie gegen andere zu behaupten. «Das ist etwas, was wir viel zu lange gemacht haben. Viele Waldorfpädagog:innen haben gewartet und geschaut, dass Menschen außerhalb der Waldorfwelt unsere Ansätze und Methoden belegen und bestärken. Und diejenigen Forschungen, die zu anderen Ergebnissen kamen, wurden schnell für irrelevant erklärt und ignoriert. Das halte ich für den falschen Weg», sagt Hutzel. Vielmehr müsse die Waldorfpädagogik diskursiv anschlussfähig sein und auch interessiert auf Studienergebnisse außerhalb der eigenen Bubble schauen. «Wegkommen von der One-Man-Science», nennt Hutzel das. Zum Beispiel sei die Art und Weise, wie in Waldorfschulen den Kindern die Schreibschrift beigebracht werde, möglicherweise nicht die beste. Hutzel verweist dazu auf neue Forschungen, etwa von Susanne Speckenbach zum Schreiben und Lesen lernen. Er selbst hätte Steiner auch immer so verstanden, dass es ihm darum gegangen sei, seine Ideen selbstständig und der jeweiligen Zeit gemäß
weiterzuentwickeln.
Antworten von heute
Etwas, das Steiner stark beschäftigt hat, war die Frage nach dem geregelten Zusammenleben der Menschen in einer zunehmend industrialisierten und globalisierten Welt. In seinem Werk Die Kernpunkte der sozialen Frage schreibt er 1919: «Das soziale Leben der Gegenwart stellt ernste, umfassende Aufgaben. Forderungen nach Neueinrichtungen in diesem Leben treten auf und zeigen, daß zur Lösung dieser Aufgaben Wege gesucht werden müssen, an die bisher nicht gedacht worden ist.» Mit genau denselben Worten könnten wir auch die Situation der heutigen Menschen beschreiben. Nur die Antworten, die Wege, die müssten andere sein, meint Hutzel. «Als Pädagog:innen stehen wir heute zum Beispiel vor der Frage, wie wir den wachsenden psychischen Problemen von Jugendlichen begegnen. Und wir können Fragen von 2025 nicht mit Antworten von 1919 begegnen. Wir müssen selbst welche finden.» Hutzel ist überzeugt, dass die Waldorfpädagogik jungen Menschen diesbezüglich viel anbietet. Da seien zum einen die künstlerischen und die handwerklichen Fächer, in denen die Schüler:innen Selbstwirksamkeit erfahren könnten. Sie steht dem Gefühl der Ohnmacht gegenüber, das für viele aktuelle psychische Probleme ein Auslöser ist. Zum anderen gäbe es Fenster und Räume für aktuell Wichtiges in allen anderen Fächern, die durch den individuellen Lehrplan der Waldorfschulen ermöglicht werden. Hutzel findet es zum Beispiel lohnenswert, die Haltung, die Steiner in der Philosophie der Freiheit einnimmt, im Unterricht stark zu machen und weiterzudenken. «Steiner greift in den Kernpunkten der Sozialen Frage die Losung der Französischen Revolution auf: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit. Er ordnet sie dem Geistesleben, dem Rechtsleben und dem Wirtschaftsleben zu. Den Begriff der Brüderlichkeit nennen wir heute Geschwisterlichkeit. In einem nächsten Schritt müssen wir zur Mitgeschöpflichkeit kommen, damit auch die Erde eine Stimme bekommt», schlägt Hutzel vor. Eigentlich sei eine solche Haltung in der Anthroposophie auch angelegt, aber eben noch nicht vollständig wirksam geworden.
Liebe zur Welt
Zusammen mit anderen Engagierten im Projekt Demokratiekultur erarbeitet Hutzel derzeit eine Demokratie-Unterrichtseinheit, die möglichst bald Usus an Waldorfschulen sein soll. Auch das ist etwas, das über Steiner hinausgeht, der politische Parteien nur anfänglich kennenlernen konnte – ist er doch sieben Jahre nach dem Beginn der Weimarer Republik gestorben. Er blieb bis zu seinem Tod ein Skeptiker gegenüber dem Parteiensystem. Heute müssen junge Menschen lernen, sich darin zu verorten. Hutzel schweben für die Demokratie-Unterrichtseinheit zum Beispiel sogenannte Dilemma-Diskussionen vor, Diskussionen also, in denen Werte in Konflikt zueinander stehen. «Die Corona-Zeit liefert eine gute Vorlage. Freiheit und Selbstbestimmung spielten da genauso eine Rolle wie Schutz und Rücksichtnahme. Solche Werte verhandeln, ohne dass das spaltet – das wird in Dilemma-Diskussionen geübt. Sie sind keine waldorfpädagogischen Erfindungen, aber sehr wichtig und wertvoll», erläutert Hutzel. Die Dilemma-Diskussionen seien erst sinnvoll, wenn Schüler:innen über ein gewisses Urteilsvermögen verfügten. Demokratieerziehung sei mit einer Unterrichtseinheit aber längst nicht ausreichend geschehen und beginne viel früher. «Am Anfang steht die Liebe zur Welt, die angeregt werden muss. Denn Menschen werden nur bewahren, was sie schätzen», sagt Hutzel.
Er plädiert für eine Stärkung der Sozialwissenschaften im Waldorflehrplan. Die könnten all das vereinen, was Schüler:innen brauchen, um fit fürs Heute zu sein. Nämlich sich selbst finden in der Vielzahl der Möglichkeiten, Menschen und Gesellschaft verstehen sowie selbst urteilsfähig werden. Hutzel hofft, dass dies Ängsten, Depressionen, Burnout vorbeugen kann und vielleicht so ein Teil der Antwort auf die sozialen Fragen von 2025 sein kann. Lehrkräfte müssen sich zunehmend mit dem Phänomen von psychisch belasteten Schüler:innen beschäftigen und auch eine Perspektive für eine Selbstfürsorge entwickeln. Hutzel wünscht deshalb für Lehrkräfte Coaching oder Supervision. «Die abendliche Meditation, die Steiner den Lehrer:innen an die Hand gegeben hat, ist für einige sicher eine Stütze, kann aber nicht alles leisten. Die Waldorfpädagogik ist eine Beziehungspädagogik und unsere Lehrer:innen brauchen die Kraft, diese Beziehungen selbst auszuhalten. Ein Coaching ist da nur professionell», sagt Hutzel.
Trotz des Reformbedarfes sieht Hutzel die Waldorfpädagogik für die nächsten hundert Jahre gut aufgestellt: «Ich erlebe in unserem Kreis sehr viele Menschen mit einer großen individuellen Initiativkraft. Das macht mich optimistisch.»
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