Die Broschüre Mobbing und Cyber-mobbing, die Christine Laude für den Bund der Freien Waldorfschulen verfasst hat, ist auf den Seiten des BdFWS kostenlos als PDF zu bekommen. Der QR-Code leitet direkt dorthin.
Erziehungskunst | Frau Laude, wie kam es dazu, dass Sie die Broschüre für den Bund der Freien Waldorfschulen geschrieben haben?
Christine Laude | Ich bin der Waldorfpädagogik – auch als ehemalige Lehrerin – sehr verbunden und habe viele Schulen dabei begleitet, Mobbingdynamiken zu durchbrechen und Interventionsansätze zu etablieren. 2021 veröffentlichte ich mein Buch zum Thema Mobbing, in dem ich das Thema auch aus anthroposophischer und waldorfpädagogischer Sicht beleuchte.
EK | Können Sie diese Sicht näher erläutern?
CL | Rudolf Steiner beschreibt ja beispielsweise, dass Kinder im neunten Lebensjahr den Rubikon erreichen, in dem sie endgültig erkennen und erleben, dass sie selbst und die Welt keine Einheit sind. Dies löst in vielen Kindern Irritation bis hin zu einem tiefen Erschrecken aus, verbunden mit fundamentalen Fragen wie «Wer bin ich?» und «Wo gehöre ich hin?». Kinder werden in diesem Alter auch vermehrt aufmerksam auf die innere Haltung des Erwachsenen, auch die Peergroup rückt in den Fokus. Emotionale Kompetenzen können nun miteinander und am Vorbild entwickelt werden. Man könnte sagen, es ist das verletzlichste Alter in der Adoleszenzreifung und daher ist es auch so wichtig, wie Erwachsene in dieser Zeit handeln.
EK | Wie hängt diese Phase mit Mobbing zusammen?
CL | In dieser Phase der Unsicherheit und Verletzlichkeit haben Kinder ganz besonders das Bedürfnis nach Anerkennung und Selbstwirksamkeit. Wenn hier ein Mangel entsteht, kann es sein, dass sie versuchen, diesen durch Macht und Dominanz auszugleichen. Es entstehen also Situationen, in denen ein anderes Kind ausgegrenzt oder ausgelacht wird. Innerhalb kürzester Zeit gesellen sich weitere Schüler:innen dazu. Es entsteht eine Gruppendynamik, die über einen längeren Zeitraum bestehen bleibt. Dann spricht man von Mobbing.
EK | Wenn Sie von Gruppendynamik sprechen, meinen Sie damit, dass es verschiedene Rollen gibt und nicht nur einen Täter und ein Opfer?
CL | Genau das ist der entscheidende Unterschied zu einem Konflikt. Es beginnt mit ein oder zwei Akteur:innen, hinzu kommen Assistent:innen, Verstärker:innen und Unterstützer:innen. Anfangs hat das betroffene Kind noch Verteidiger:innen, die diese Rolle aber mit der Zeit aufgeben. Hinzu kommt eine große Gruppe von Zuschauer:innen, die genau wissen, was passiert, aber nicht eingreifen können und das Mobbing somit erdulden und mittragen, aber letztlich auch darunter leiden.
EK | Wie kann es bei einer solch komplexen Dynamik gelingen, das Mobbing zu beenden?
CL | Man weiß heute, dass es nichts verändert, wenn die Täter:innen bestraft werden. Selbst, wenn jene von der Schule genommen werden, setzt sich die Dynamik in der Klasse fort. Es ist daher ein Impuls notwendig, der die Negativdynamik umdreht. Das gelingt beispielsweise mit dem «No Blame Approach». Hier wird ohne Schuldzuweisung lösungsorientiert gearbeitet.
EK | Wie genau funktioniert das?
CL | Die Klassenlehrer:in wählt sich eine Gruppe von ungefähr acht Schüler:innen aus und diese erarbeiten gemeinsam kleine Handlungen, um der betroffenen Person zu helfen. Sie warten beispielsweise an der Bushaltestelle und begleiten sie zur Schule, sie sitzen in der Klasse neben ihr oder laden sie auf ein Eis ein.
EK | Und das reicht aus, um die festgefahrene Struktur aufzulösen?
CL | In 80 Prozent der Fälle ja. Man weiß aus der Forschung, dass acht Prozent einer Gruppe ausreichen, um eine Dynamik zu verändern. Anschließend muss die Klassenlehrkraft natürlich weiter am Klassenklima arbeiten, zum Beispiel mit Erlebnispädagogik, Projekten oder Schülermediator:innen.
EK | In Ihrer Broschüre schreiben Sie, dass Lehrkräfte den größten Einfluss darauf haben, ob Mobbing in ihren Klassen auftritt oder nicht. Wie können sie das verhindern?
CL | Zunächst ist es elementar wichtig, dass Lehrkräfte die Kriterien von Mobbing kennen. Wichtig ist auch, zu verstehen, dass nicht nur körperliche Attacken, sondern auch soziale, wie etwa Ausgrenzung, eine Form von Gewalt sind. Mit diesem Wissen können Lehrkräfte viel gezielter hinschauen und beobachten, was ja sowieso Kern der Waldorfpädagogik ist. Entscheidend ist auch, sich grundsätzlich bei selbst wahrgenommenem respektlosem Verhalten klar zu positionieren: «Diese Art des Umgangs möchte ich hier nicht.» Der Unterricht wird erst dann fortgeführt, wenn die Botschaft ankam. Wegsehen und Ignorieren sind keine Lösung.
EK | Was sollten Lehrkräfte tun, wenn sie beobachten, dass ein Kind immer wieder Opfer von Attacken wird?
CL | Ganz entscheidend ist es, in einer sich aufbauenden Mobbingsituation kein Kind vorzuführen, was man ja grundsätzlich nie tun sollte. An einigen Schulen ist es immer noch gängige Praxis, dass Kinder an der Tafel vorrechnen müssen. Selbst, wenn das freundlich und zugewandt durchgeführt wird, kann es die Mobbingdynamik verstärken. Auch ironisch-sarkastische Äußerungen, beispielsweise weil ein Kind häufig zu spät kommt, sollten unterlassen werden. Beobachtet man, dass ein Kind plötzlich viel allein ist oder sein Verhalten ändert, dann sollte auf jeden Fall das Gespräch gesucht werden — und zwar so, dass es die Mitschüler:innen nicht mitkriegen. Die Lehrkraft kann erst einmal ihre Beobachtungen schildern und dann fragen, ob dem Kind etwas auf der Seele liegt. Gegebenenfalls sollte auch das Gespräch mit den Eltern gesucht werden.
EK | Im Internet kursieren seit einigen Jahren Betroffenenberichte ehemaliger Waldorfschüler:innen, laut denen Lehrkräfte sich an Mobbing beteiligten oder jede Hilfe unterließen, mit der Begründung, dies sei für die Karmaentwicklung der Kinder notwendig. Sind Ihnen solche Fälle bekannt?
CL | Nicht persönlich, aber ich habe schon davon gehört. Aus meiner persönlichen Sicht wäre ein solches Verhalten ein krasses Missverständnis davon, was Karma bedeutet. Natürlich ist es wichtig, dass Kinder auch einmal ein Scheitern und auch Konflikte erleben. Aber es darf nicht sein, dass eine Lehrkraft sich zurückzieht, sondern es erfordert im Gegenteil enorm starke Präsenz, Gespräche, klare Stoppsignale und Lösungsangebote, immer im Dialog mit den Kindern.
EK | Wie kann man in den einzelnen Klassenstufen ein gutes Klassenklima unterstützen?
CL | Wichtig ist, Kindern zu ermöglichen, intrinsisch Selbstregulation zu erlernen. Das kann schon in der ersten Klasse beginnen mit wöchentlichen Reflexionsrunden: Wie geht es mir, wie fühle ich mich in der Klasse? Ab Klasse drei oder vier sollte ein Klassenrat eingeführt werden, in dem Kinder ein respektvolles Miteinander üben. Im Rahmen eines Medienkompetenztrainings sollte auch ein Verhaltenskodex für den Klassenchat erarbeitet werden, um Cybermobbing vorzubeugen. In den höheren Stufen ist auch Schülermediation möglich, damit die Jugendlichen lernen, Konflikte eigenverantwortlich zu lösen. Grundsätzlich ist es hilfreich, den Schüler:innen so viel Partizipation wie möglich zu gewähren, in einem Rahmen, der von den Erwachsenen gehalten wird.
EK | Können auch Schulen präventiv etwas gegen Mobbing tun?
CL | In der Schulordnung sollte klar verankert sein, dass Mobbing eine Form von Gewalt ist und nicht geduldet wird. Dort sollte auch stehen, wie in einem Mobbingfall interveniert wird. Außerdem ist es wichtig, jedes Schuljahr vertrauenswürdige Ansprechpartner:innen aus dem Kollegium oder der Schulsozialarbeit zu benennen, damit Kinder und Eltern wissen, an wen sie sich wenden können.
EK | Welche Rolle nehmen bei all dem die Eltern ein?
CL | In erster Linie ist es wichtig, für das eigene Kind da zu sein, egal, welche Rolle es in der Mobbingdynamik hat. Eltern sollten ihr Kind während des Aufarbeitungsprozesses unterstützen. Ist das Mobbing bereits fortgeschritten, kann durchaus ein Trauma entstehen. Dann ist es wichtig, dass Eltern einen Therapieplatz für ihr Kind suchen. Dennoch gilt: Da das Mobbing in der Schule entstanden ist, muss es auch dort beendet werden. Dadurch erfahren Kinder, dass sie keine Gewalt ausüben müssen, um geliebt zu werden. Sie werden gesehen, ihnen wird geholfen und betroffene Kinder können wieder in die Gemeinschaft integriert werden. Wichtig ist für Eltern daher auch, gut in Kontakt mit den Lehrkräften zu sein.
EK | Haben Waldorfschulen als selbstverwaltete Organisationen ein besonderes Risiko für Mobbing?
CL | Was ich erlebt habe, ist, dass es an einigen Waldorfschulen massiv manifestiertes Mobbing innerhalb des Kollegiums gibt, das oft von informellen Machtstrukturen geschützt und nur schwer erkannt wird. Einzelne Lehrkräfte werden rausgedrängt und es kommt vermehrt zu Burnouts. Entscheidend ist auch hier, dass das Mobbing erkannt, ein klares Stoppsignal gesetzt und ein gemeinsamer Lösungsprozess angestoßen wird. Hierfür wurde beispielsweise der «No Blame Approach» für Erwachsene adaptiert.
EK | Vielen Dank für das Gespräch!
Das Gespräch führte Ann-Katrin Neundorf
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