Ausgabe 09/23

Weichenstellen

Sigrid Seidler
Martin von Mackensen

Zehn Tage dauert das Praktikum der Zwölftklässer:innen der Freien Waldorfschule Kassel auf dem Dottenfelderhof bei Frankfurt am Main. Dort erleben die Schüler:innen den Rhythmus praktischer Arbeiten und die vielen verschiedenen Aufgaben eines biodynamischen Betriebs.
Nur wenige Waldorfschulen bieten für Ihre Schüler:innen in der zwölften Klasse ein Landwirtschaftspraktikum an. Die Regel sind Klasse sieben oder acht. In der Oberstufe bringen die Schüler:innen aber schon eine andere Perspektive und Erfahrung mit.
Sowohl der theoretische als auch der praktische Unterricht bieten Raum, um den Inhalt des Unterrichts dem aktuellen Lernstand der jeweiligen Klasse anzupassen. Fächerübergreifender Unterricht beleuchtet dabei zum Beispiel die Globalisierung der Nahrungsmittelproduktion aus den Perspektiven der Biologie sowie der Politik- und Wirtschaftskunde. Die Kasseler Fachlehrer:innen und Dozent:innen am Dottenfelderhof machen den Unterricht gemeinsam.
Das duale Lernen direkt auf dem Hof ermöglicht den sofortigen Realitätscheck: Was die Schüler:innen bei der Arbeit auf dem Feld und in Gesprächen mit Landwirt:innen auf dem Hof erleben, ist unmittelbar und praktisch. So gibt das Praktikum einen ersten Vorgeschmack auf ein Leben ohne Lehrer:innen, wenn die jungen Menschen das Leben im Austausch miteinander meistern und sinngebend gestalten müssen.

Ungewissheit als Begleiterin

Martin von Mackensen, Leiter der Landbauschule Dottenfelderhof, erzählt von der besonderen Bedeutung dieses Konzeptes: «Das traditionelle landwirtschaftliche Praktikum in der neunten Klasse kann ein erster Schritt aus dem Elternhaus sein, eine Begegnung mit der Arbeitswelt an der Seite von tief mit ihren Tätigkeiten verbundenen Menschen. Die eigene Arbeit wird Teil der vielen praktischen, sinnvollen und zielführenden Tätigkeiten auf einem landwirtschaftlichen Betrieb.» Mit dem Praktikum der zwölften Klasse verhält es sich laut von Mackensen jedoch anders: «Es geht für die jungen Menschen in dieser Phase vor allem um die Entwicklung der eigenen Urteilsfähigkeit. Fragen werden wichtiger als Antworten.» Für ihn ist die Bewegung zum eigenständigen jungen Erwachsenen «im Austausch mit Gleichaltrigen ein zentrales Anliegen für Lehrende in der Oberstufe. Die Landwirtschaft ist dafür genau die richtige Partnerin: Hier erleben die Schüler:innen das tägliche Fragen, welches die Arbeit in der Landwirtschaft begleitet. Ungewissheit ist unsere ständige Begleiterin, die Innovation und Improvisation fordert.»

Epochen im Kontext

Sigrid Seidler, Biologielehrerin an der Kasseler Waldorfschule, ist vom Unterricht vor Ort begeistert: «Im Kontext der Landwirtschaft werden viele Themen des Oberstufenlehrplans aus neuen Perspektiven mit echten Erlebnissen behandelt. Wir können zum Beispiel das Thema Domestikation hier viel gründlicher begleiten, indem wir Tiere im Stall beobachten, als es in der Schule möglich wäre. Als erfahrener Landwirt schildert Martin dazu mit beeindruckender Authentizität Situationen mit und Eigenschaften von Haustieren im Vergleich zu Wildtieren. Er beleuchtet jedoch auch negative Seiten wie Überzüchtung mit Auswirkungen auf Knochenbau, Fruchtbarkeit, Abhängigkeit oder Antibiotika.» In Sachen Botanik wird auf dem Hof im wahrsten Sinne des Wortes begreifbar, welche Ansprüche der Kulturpflanzen man berücksichtigen muss: «Man muss die richtige Technik, den richtigen Zeitpunkt, die richtige Vorbereitung des Bodens wählen, damit die Sorten gedeihen.»
Pflanzenbau muss Bodenkunde und Bodenerfahrung beinhalten, wenn er erfolgreich der Nahrungsmittelproduktion dienen soll. «Bodenqualitäten werden in der Schule ja oft nur oberflächlich behandelt», meint Seidler. «Hier dagegen werden sie sinnlich beim Arbeiten erfahrbar und als kostbarste Ressource für die Ernährung der Menschheit bewertbar. Dieses Bewusstsein bei den Jugendlichen zu entwickeln, halte ich für eine der vordringlichen pädagogischen Aufgaben in der heutigen Zeit.»

Beruf im Blick

Laut der Biologielehrerin stehen ihre 18- bis 19-jährigen Schüler:innen vor großen Herausforderungen. Denn auf den Schulabschluss folgt die Berufswahl, inklusive Verdienstmöglichkeiten und Sinnsuche. Durch die Kontakte zu den Menschen auf dem Hof «können sie ihr Berufsziel vielleicht neu ausrichten, konkretisieren, in jedem Fall bereichern. Auch ein wichtiger Grund, das Landbaupraktikum in diesem Alter anzusetzen.»
Ein Satz ist beim Praktikum für Seidler besonders wichtig: «Das probieren wir in diesem Jahr zum ersten Mal aus!» Ob es dabei um eine neue Maschine, den Umgang mit Mist oder eine neuen Bearbeitungsmethode geht, sind laut ihr: «Eigenschaften wie besonnene Risikobereitschaft, Mut zu neuen Wegen, Loslassen von Altbewährtem, exaktes Beobachten und Auswerten erforderlich – alles wichtige Erfahrungen für den weiteren Weg im Leben!» Von Mackensen ergänzt: «Das einzig Bleibende ist der Wandel, in der Landwirtschaft und im Leben überhaupt.»

Das vierte Jahrsiebt

Ein weiterer wichtiger Aspekt für die Kasseler Lehrerin ist der intensive Austausch untereinander. «In diesen Tagen auf dem Hof werden Lebenskräfte angeregt, die vieles in Bewegung bringen – in den eigenen Urteilen, dem Lebensgefühl an sich oder auch biographischen Zielen». Der Fachschulleiter betont: «Es geht darum, für das vierte Jahrsiebt etwas vorzubereiten. Wir als Lehrende sprechen immer wieder darüber, worauf es menschenkundlich ankommt: An diesem Punkt im Leben gibt es keine Meister:innen mehr. Es kommt darauf an, sich selbst zu finden. Sie kennen ja die Welt schon ganz gut, diese Zwölftklässler:innen. Sie kennen nur sich selbst nicht. Das ist normal und richtig. Dieser Übergang ist Teil unseres Praktikums. Denn das ist weit mehr als eine nette Klassenfahrt, es geht ums praktische Üben.»
Auch Seiler hält es für absolut nötig, sich nach allen Seiten zu öffnen: «Menschen, die einem weiterhelfen, gibt es meistens in unmittelbarer Nähe. Es war schön, wie selbstverständlich wir hier integriert wurden. Ein Beispiel: Wir sollten einen Möhrenacker jäten. Dafür hat ein Lehrling Abschnitte markiert und uns erklärt: «Bis dahin jäten wir jetzt, wer schneller fertig ist, arbeitet dem Klassenkameraden der Nachbarreihe entgegen, und wenn die acht Abschnitte gemacht sind, ist Pause für alle.» So blieb man frisch bei der Arbeit und hat zusammen unerwartet viel geschafft. Auch eine Fahrt zur Eisdiele war ein probates Mittel gegen Arbeitsfrust.» Seidlers Fazit lautet deshalb: «Ich bin seit 25 Jahren immer wieder glücklich darüber, dass wir uns an der Kasseler Schule für diese Fahrt mit den zwölften Klassen auf den Dotti entschieden haben.»

Kommentare

Thomas Maus,

An den vielen, in der internat. Gartenbaulehrertagung vertretenen Schulen gibt es keine, die ein Landwirtschaftspraktikum (LWP) in der 7. oder 8. Klasse veranstaltet, wie im Artikel behauptet. Fast alle Schulen gehen in der 9. Klasse ins LWP. Das ist gut begründet und die Erfahrung entspricht der Äußerung des im Artikel zitierten Herrn von Mackensen. Zum LWP wurde 2018 von eine Befragung durchgeführt, an der immerhin 73,8% der Waldorfschulen teilgenommen haben. Aus den Ergebnissen wurde eine Handreichung erstellt, an der sich bei der Durchführung des LWP inzwischen sehr viele Schulen orientieren. Das LWP in einer 12. Klasse ist in keiner Weise typisch, da an den meisten Schulen die Prüfungsvorbereitungen, das Klassenspiel, etc. dazu keinen Raum lassen. Für die Jugendlichen ist das Erlebnis, wirklich gebraucht zu werden, prägend ist. Viele kommen nach dem Praktikum wieder zur Mitarbeit auf "ihren Hof". Nicht wenige schließen an die Schulzeit ein Freiwilliges Ökologisches Jahr an..

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