Piwecki ist Geschäftsführerin der Freien Interkulturellen Waldorfschule Mannheim und seit November 2023 auch Mitglied im Vorstand des Bundes der Freien Waldorfschulen (BdFWS). Adam hat eine Forschungsarbeit zum Thema «Bildungsaufstiege an Waldorfschulen» verfasst. Sie gehörte zum Gründungsteam der Interkulturellen Schule und ist Dozentin an der Freien Fachschule für Sozialpädagogik Mannheim. Ein «barrierefreies Aufnahmeverfahren» im Sinne einer Willkommenskultur sei nötig, ein Ganztageskonzept und möglicherweise auch Quoten, so ihre Einschätzung.
Erziehungskunst | Der Anteil von Schüler:innen mit Migrationshintergrund beträgt an der Freien Interkulturellen Waldorfschule Mannheim rund 50 Prozent. Die Kinder und Jugendlichen kommen aus 40 Nationen. In diesen Punkten unterscheidet sich die Schule deutlich von anderen Waldorfschulen. Gibt es weitere Besonderheiten der inzwischen drei interkulturellen Waldorfschulen in Deutschland?
Susanne Piwecki | Wir haben keine Vorschrift darüber, was eine interkulturelle Waldorfschule ist, da gibt es auch lokale Unterschiede, aber sicherlich kann man sagen, dass es ihr Ziel ist, die soziale und kulturelle Integration zu ermöglichen. Dazu gibt es hier in Mannheim besondere Unterrichtsangebote, zum Beispiel eine spezielle Deutschförderung, den begegnungssprachlichen Unterricht in der eigenen Muttersprache in der ersten und zweiten Klasse, an dem alle Schüler:innen teilnehmen und in den Klassen drei bis fünf den Kulturunterricht, in dem die Schüler:innen gemeinsam die muslimische, die jüdische und die christliche Kultur kennenlernen. Außerdem waren wir von Anfang an eine Ganztagsschule, weil man sehr schnell gesehen hat, dass es für die Förderung dieser Schüler:innen nicht ausreicht, wenn sie nur von acht Uhr bis 12 Uhr in der Schule sind.
Christiane Adam | Da geht es vor allem um Erlebnisse, für die die Zeit des Unterrichts einfach nicht ausreicht – Gartenbau, Kultur, Projekte als festes Programm, dieses kreative, künstlerische und soziale Element. Damit wird eine Bildungswelt geboten, die in den Elternhäusern so nicht gegeben ist.
EK | Wie sieht es aus mit den Elternbeiträgen? Manche Menschen haben doch vermutlich Schwierigkeiten, sie aufzubringen.
SP | Die Stadt Mannheim unterstützt uns mit finanziellen Mitteln für die Sprachförderung, diese Zuwendungen kompensieren einen Teil der Elternbeiträge. Außerdem sind die 80 bis 90 Euro Elternbeitrag ein Durchschnitt, das heißt, es gibt auch besser gestellte Eltern, die mehr zahlen.
EK | Die Schülerzahl bei Ihnen in Mannheim bewegt sich auf einem stabilen Niveau – wie gewinnen Sie denn die Eltern, wie finden sie den Weg zur Schule?
SP | Inzwischen ist es schon so ein bisschen wie ein Selbstläufer, wir sind bekannt in Mannheim. Bei den Gesprächen zur Aufnahme hören wir auch zu 80%, dass die Eltern durch persönliche Kontakte zu uns gekommen sind. Mit der normalen Art von Öffentlichkeitsarbeit, die wir sonst machen, erreicht man diese Familien eher nicht.
CA | Man muss sich schon aktiv um eine andere Schülerschaft bemühen. Damals bei der Gründung haben wir schon die ganzen Kontakte aufgebaut – zu Vereinen, zum Migrationsbeirat und auch zu den ganzen Kitas. Diese Eltern kommen nicht von selbst, das muss einem klar sein.
SP | Es sind immerhin 40 Kitas, mit denen wir in Kontakt bleiben. Wichtig ist auch noch, dass die interkulturelle Schule auch fußläufig gut erreichbar ist, eine gute Anbindung an den ÖPNV braucht man, wir sind ja eine Stadtteilschule. Außerdem braucht es ein barrierefreies Aufnahmeverfahren. Ich meine damit eine Willkommenskultur. Wenn man verpflichtend an bis zu zehn Elternabenden teilnehmen muss, damit das Kind aufgenommen wird, wie es das durchaus gibt, funktioniert es nicht für diese Elternhäuser.
EK | Wenn wir jetzt davon ausgehen, dass diese untypischen Waldorfeltern die Schule gefunden und diese Hürden überwunden haben, was erwartet denn die Kinder an der Waldorfschule? Sie, Frau Adam, haben ja in einer eigenen Studie dazu geforscht und dabei auch andere Waldorfschulen einbezogen. Was bietet die Waldorfschule benachteiligten Kindern, was haben Sie herausgefunden dazu?
CA | Das Entscheidende ist die Entstandardisierung und die Entschleunigung, dass diesen Schüler:innen einfach mehr Zeit gelassen wird. In meiner Fallstudie kann man das sehen: Keins der benachteiligten Kinder war in der Mittelstufe gut, das kam erst später und am Ende hatten alle Schulabschlüsse. Es gab auch während der Pubertät nicht so einen Konkurrenz- und Leistungsdruck. Dadurch entsteht eine Nähe zur Schule und das weiß man auch aus anderen Forschungen, dass die entscheidend ist für den Erfolg. Durch die Mittelstufe ohne diese starke Leistungsorientierung schafft man – wenn es gut läuft – eine positive emotionale Besetzung der Schule und dadurch ergibt sich dann auch eine positive Bildungsorientierung.
EK | Eltern aus migrantischen Milieus sind aber doch erfahrungsgemäß schon leistungs- und aufstiegsorientiert. Werden sie dann nicht unsicher, wenn nicht ständig gefordert wird?
SP | Das kennen wir doch auch von den deutschen Eltern, dass sie denken, ihr Kind würde nicht genug lernen an der Waldorfschule. Das ist eine Frage des Vertrauens, das aufgebaut werden muss durch die Schule. Aus meiner Beobachtung merken die Eltern schon, was den Kindern guttut, dass auch das Handwerkliche und Künstlerische sinnvoll ist und die Kinder dann glücklich nach Hause kommen, weil sie etwas geleistet haben.
CA | Hinsichtlich der praktischen Fächer ist schon Aufklärungsarbeit zu leisten, zum Beispiel bei der Frage «Was nutzt es, wenn die Kinder stricken». Gerade die praktischen Fächer wie Gartenbau oder Werken können viel zum Aufbau eines besseren Selbstbewusstseins beitragen, das bei den Hauptschüler:innen darunter leidet, dass diese ganze Schulstufe in der Öffentlichkeit so abgewertet wird. Bei den Waldorfschulen haben die praktischen Lerngelegenheiten ihren eigenen Wert, das kommt vielen Schüler:innen zugute. In eine ähnliche Richtung wirken auch die künstlerischen Fächer.
EK | Sie haben in Ihrer Forschung auch zwei Fallstudien, bei denen die Schüler:innen gefährdet waren, gar keinen Abschluss zu machen – durch Schulverweigerung oder auch durch Delinquenz, Gewalt und Drogen. Aber auch sie haben es an der Waldorfschule dann geschafft. Was war hier der entscheidende Punkt?
CA | Entscheidend war die Klassengemeinschaft und dass die Lehrkräfte sich gekümmert haben, dass Wertschätzung und Zugehörigkeit erlebt wurden. So entsteht ein Schutz- und Anerkennungsraum, der zum Beispiel auch bei schwierigen Familienverhältnissen, die ich auch hatte in meinen Fällen, wie ein Familienersatz wirken kann. Auch bei einem Fall, in dem die Schülerin vorher gemobbt worden war, wirkte die Klassengemeinschaft heilsam.
EK | Aber kann es nicht auch schwierig sein, in so eine Waldorfklasse, die ja schon lange beisammen ist, hineinzukommen?
CA | Ein gutes, gesundes Miteinander in einer Klasse muss gestaltet werden. Ob das gelingt, hat sehr viel zu tun mit der Arbeit der Klassenlehrkräfte.
EK | Sie haben in Ihrer Studie auch Risiken herausgearbeitet für die Kinder und Jugendlichen aus den benachteiligten Milieus an der Waldorfschule. Welche Risiken sind das?
CA | Alle Chancen haben auch ihre Schattenseiten. So kann es sein, dass es in der Mittelstufe zu unrealistischen Selbsteinschätzungen kommt von Seiten der Schüler:innen und zum Schluss dann doch kein Schulabschluss erreicht wird. Das können diese Elternhäuser nicht so gut abfangen, noch ein weiteres Schuljahr. Außerdem ist an der Waldorfschule viel mehr abhängig von Beziehungen. Wenn es da nicht so gut läuft, besteht schon die Gefahr, aus diesen wichtigen sozialen Bezügen herauszufallen.
SP | Bei den Schulabschlüssen spielt auch die Beratung eine große Rolle. Das sollte nicht passieren, dass jemand am Ende keinen Schulabschluss hat, es wird ja doch auf den passenden Schulabschluss verwiesen von Seiten der Schule. Die Lehrkräfte achten schon drauf, dass alle erstmal den Hauptschulabschluss haben.
EK | Eine Statistik, in der man die Schulabschlüsse an der interkulturellen Waldorfschule mit den staatlichen Schulen vergleichen könnte, gibt es aber nicht, oder?
SP | Das ist deswegen schwierig, weil wir kein Abitur anbieten und die Schüler:innen, die das machen wollen, an andere Schulen wechseln.
EK | In der Liste aus Mannheim hat mich dann aber doch die Schülerin stark beeindruckt, die mit einer Förderschuleinstufung gekommen ist und am Ende das Fachabitur gemacht hat. Auch wenn das vielleicht ein Einzelfall ist, spricht es doch für sich. Sollten sich nicht mehr Waldorfschulen auf diesen Weg hin zu mehr sozialer und kultureller Integration machen?
SP | Aus meiner Sicht müsste der erste Schritt sein, dass wir uns eingestehen, dass wir uns heute sehr weit vom Ideal der ersten Waldorfschule entfernt haben, die ja eine Schule auch für Kinder von Arbeiter:innen sein sollte.
CA | Ich finde, dass es dem Selbstverständnis einer offenen, toleranten und diversen Schulkultur, wie es die Waldorfschule ja hat, widerspricht, wenn die Zusammensetzung der Schüler:innen so homogen ist. Auch wenn die Zahlen zum Migrationshintergrund sehr variieren, der Anteil von zirka vier Prozent an den Waldorfeltern ist schon realistisch, in Baden-Württemberg sind es zirka sieben Prozent, aber nur, weil Mannheim mit eingerechnet ist. Das wird übrigens auch von den Oberstufenschüler:innen als Kritik geäußert in den Absolventenstudien, dass man so unter sich ist. Die jungen Leute, die heute global unterwegs sind, merken das ja auch.
EK | Frau Piwecki, welchen Weg sehen Sie als Vorstand im BdFWS, um die Zusammensetzung der Schüler:innenschaft zu verändern? Wären Quoten hilfreich?
SP | Quoten werden ja überall ziemlich kontrovers beurteilt. Ich wäre schon froh, wenn das Thema in der Schulbewegung breiter diskutiert würde.
CA | Vermutlich wird man um Quoten nicht herumkommen – 20 Prozent Migrant:innen, zehn Prozent aus benachteiligten Elternhäusern in den Klassen, das wäre die Hälfte des Prozentsatzes, den wir in Deutschland haben. Da habe ich jetzt die Prozentsätze bei den Kindern und Jugendlichen herangezogen, die sind höher als die allgemeinen. Die Diskussion um die soziale Ungleichheit hat in der letzten Zeit sehr an Fahrt aufgenommen und sie wird sich noch verschärfen. Wenn die Waldorfschulen ernst genommen werden wollen in der Zukunft, müssen sie dieses Thema angehen.
EK | Dann müsste aber auch dafür gesorgt werden, dass die Lehrer:innenbildung entsprechende interkulturelle Kompetenzen vermittelt. Ein eigenes Thema, das jetzt hier unseren Rahmen sprengt. Frau Piwecki, Frau Adam, vielen Dank für das Gespräch!
Das Gespräch führte Cornelie Unger-Leistner.
Ausgabe 05/24
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