Die Nachbarin klingelt. «Geben Sie den Kindern das von mir?» Sie drückt mir drei Überraschungseier in die Hand. Bei uns heißen die ja «Enttäuschungseier», aber die Kinder freuen sich trotzdem.
Bis sie offen sind
Dann haben wir ein Problem. Inzwischen sind die Jungs groß genug und die Gefühlstiefe ist kein Grand Canyon mehr, sondern nur noch ein müdes Schulterzucken, also allenfalls ein Schlagloch. Eigentlich immer passiert nämlich das: Eins der Eier hat einen so bescheuerten Inhalt, dass man die Funktion überhaupt nicht erkennt oder es ist in Quietschrosa «für Mädchen!», während die anderen beiden Inhalte «nice!» sind. Also. Ein Kind stürzt in unendliche Tiefen. Früher mit dazugehörigem Brüllen oder bitterlichem Schluchzen verbunden. Ein für uns absolut verständliches Ungleichgewicht, denn zwei Kinder haben ja gerade etwas Schönes erhalten und eins eine Enttäuschung. Auf die Größe kommts dabei nicht an. Es ist unfair. Und irgendwas passiert da mit dem Elternherz, vielleicht eine Art Vakuum, das vermutlich für Außenstehende nicht nachvollziehbar ist. Wir fühlen mit.
Empathie – eine imaginierte Nachahmung
Der Schmerz des Kindes ist verständlich und wir geraten innerlich in Not. Also, ab in den Grand Canyon, wir stürzen mit ab. Weil sich das aber doof anfühlt, fangen wir an, wie irre zu rudern. Es muss doch einen Ausweg geben? Können wir tatsächlich losfahren und noch ein Schokoladenei kaufen? Okay, zu krass, das ist selbst uns klar. Oder wenigstens versprechen, wieder eines zu besorgen beim nächsten Einkauf? Irgendwas muss man doch tun können, um diese Frustration zu glätten, das Loch zu stopfen … Nein?!
An dem Enttäuschungsei-Beispiel habe ich beim Schreiben ein paarmal gezweifelt, es klingt zu albern. Es zeigt aber perfekt, was da passiert. Denn: Wie ist das erst mit den richtig großen Schmerzen? Was tun, wenn es den ersten Liebeskummer gibt? Oder Ungerechtigkeit in der Schule? Wenn das Kind gehänselt wird? Wenn es krank ist und der Schulausflug ohne es stattfindet? Wenn es durch den Führerschein fällt oder die Traum-Ausbildung nicht machen kann? Können wir dann auch losfahren und «das regeln» oder «neu kaufen»? Nein. Es wird immer Probleme geben, die wir für unsere Kinder nicht lösen können. Also bestenfalls schon mal am Enttäuschungsei-Kummer trainieren!
Und wie können wir selbst damit klarkommen?
Da gibt es so einen Schalter im eigenen Gehirn, der muss sich in der entscheidenden Situation umlegen, ein kurzes Innehalten, ein Bewusstwerden und dann sieht dieselbe Situation ganz anders aus. Wir befinden uns also im Sinkflug über dem Grand Canyon. Das Kind hat ein Problem und leidet darunter. Ich leide mit ihm. Etwas fällt mir aber auf, noch während ich falle: Für einen winzigen Moment habe ich eine gigantische Aussicht, ich habe den vollen Überblick über den Grand Canyon und gelange auf eine Meta-Ebene und die ist mein eigener Fallschirm und vielleicht auch der des Kindes.
Ein Gefühl ist ein Gefühl
Ich kann mir klar machen, dass es einfach ein Gefühl ist, das mein Kind da gerade hat. Es ist ein starkes Gefühl und nimmt es voll mit. Und das ist okay, starke Gefühle dürfen sein. Sie müssen nicht weggedrückt werden (reiß dich mal zusammen!), sie müssen aber auch nicht gestopft werden (Ich kauf dir ein neues Ei). Starke Gefühle müssen nicht immer positiv sein. Nicht nur Freude, Begeisterung und Liebe sind erlaubt. Enttäuschung, Wut, Traurigkeit, Frustration gehören genauso zum Leben dazu. Da sie existieren, wäre es nicht gut zu lernen, mit ihnen umzugehen?
Wir können etwas tun. Etwas Entscheidendes. Wir müssen unsere Kinder nicht allein lassen mit ihrem Schmerz oder ihrem Problem. Anstatt aber mitabzustürzen, können wir stabil bleiben, uns innerlich aufrichten und die Gefühle des Kindes begleiten. «Das ist jetzt total enttäuschend.» «Ich kann sehen, wie sehr dich das mitnimmt.» Und: «Es macht dich wütend. Wütend. Wütend!»
Das Kind spürt, es ist mit seinem Gefühl angenommen und muss keine Scham über seine Gefühle empfinden. Es ist nicht allein. Und wenn wir stabil sind, darf das Kind ungebremst abstürzen, ohne dass die Welt untergeht. Sprich, Mama und Papa sehen zwar das Problem, verstehen mich auch, fallen aber nicht ebenfalls um.
Halt mich fest!
Außer den Worten haben wir noch ein weiteres, ganz Eltern-spezifisches Mittel, das kein anderer Pädagoge in dieser Form zur Verfügung hat: unseren Körper als Halt. Berührung. Um ein Kind, das vollständig außer sich geraten ist, zurück zu sich zu begleiten, können wir als Eltern es berühren. In den Arm nehmen, sofern es geht, streicheln, die Hände auf die Schultern legen, halten, sogar in den Armen wiegen, selbst, wenn das Kind dafür eigentlich schon zu groß ist. Denn Berührung ist immer Nähe und Wärme, Berührung berührt und sagt auf eine ganz urtümliche Art, du bist nicht allein, ich bin da.
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