Neulich unterhielt ich mich mit einem Lehrerkollegen über meine Pläne für die nächste Deutschepoche in der elften Klasse. Ich erzählte ihm, ich werde Das kunstseidene Mädchen von Irmgard Keun lesen. Es ist ein Roman aus dem Jahr 1932. Die 18-jährige Ich-Erzählerin Doris zieht nach Berlin und versucht sich dort durchzuschlagen. Sie stammt aus prekären Verhältnissen und träumt von einem aufregenden «Leben als Glanz» in der Großstadt. Der Roman lebt vor allem von der bildhaften Sprache im Stil der damaligen Stummfilme und beschreibt eindrücklich und mit viel Humor das Ringen um den sozialen Aufstieg der jungen Frau.
Mein Kollege hörte mir aufmerksam zu und fragte mich dann, ob dieses Buch denn auch für die Jungs in der Klasse interessant sei. Ich ärgerte mich, erklärte ihm, dass der Roman ja vielseitige Themen abdecke und deshalb unbedingt für alle lesenswert sei. Später sagte ich mir: Noch nie hat mir jemand die Frage gestellt, ob die fast ausschließlich männlich perspektivierten Romane und Dramen des (Waldorf-)Schulkanons «auch für die jungen Frauen interessant» seien. Und warum auch? Geht es hier doch um allgemein menschliche Lebensfragen, um Freundschaft, Krisen und Identität.
Latente Fragen und der Lehrplan
Der Lehrplan der Waldorfschule hat die Besonderheit, dass er sich zu allererst an Entwicklungsaufgaben der Schüler:innen in den einzelnen Klassenstufen orientiert, und das über alle Fächer hinweg. Die Vorträge zur allgemeinen Menschenkunde von Rudolf Steiner bieten hierfür eine Grundlage. Darin unterscheidet sich der Waldorf-Lehrplan von den Lehrplänen der Regelschulen, in denen das Curriculum der einzelnen Fächer vor allem kompetenzorientiert aufgebaut ist. Für den Unterricht an Waldorfschulen haben sich so über die Jahrzehnte Themen für die Oberstufenklassen tradiert, die sich als besonders geeignet zur Thematisierung der latenten Fragen der Jugendlichen erwiesen haben.
Nicht wegzudenken aus den Deutschepochen der oberen Klassen sind so die Biografien von Goethe und Schiller und die Lektüre eines Textes aus der Epoche des Sturm und Drang in der neunten Klasse, das Nibelungenlied in der zehnten Klasse, Wolframs Parzival in der elften Klasse und Goethes Faust in der zwölften Klasse. Selbstverständlich bilden diese Schwerpunkte nur einen Teil des Deutschunterrichts, etwa ein Drittel. In der Regel gibt es in jeder Klassenstufe zwei Epochen und zusätzlich die Fachstunden, sodass Raum bleibt für weitere Lektüren und das Üben der Aufsatzformen. Oft wird auch hier zurückgegriffen auf erprobte Inhalte, wobei die Lehrkräfte viele Möglichkeiten haben, ihren Unterricht entsprechend eigener Vorlieben und den Bedürfnissen der Klasse zu gestalten – in Orientierung an den Motiven, die für das jeweilige Schuljahr relevant sind.
Siegfried versus Brünhild
Ich habe als junge Lehrerin in den vergangenen Jahren mit Begeisterung die tradierten Epochen in der Oberstufe unterrichtet. Und ich habe beobachtet, wie tiefgreifend zum Beispiel so eine Arbeit am Nibelungenlied mit einer zehnten Klasse sein kann. Die Gewaltspirale zwischen Kriemhild, Siegfried, Brünhild, Gunther und Hagen rührt an aktuelle politische Konflikte in gleich mehreren Krisengebieten der Welt. Sie steht beispielhaft für Prozesse, in denen es den beteiligten Parteien nicht gelingt, egoistische Interessen und Vergeltung zu überwinden und hat somit in erster Linie ein pazifistisches Anliegen. Das Epos aus dem 13. Jahrhundert gewinnt so eine Aktualität, die für die Schüler:innen sofort nachvollziehbar wird. Erstaunliche Déjà-vus erlebt man auch mit Schüler:innen, die in den Fantasy- und Gaming-Welten zuhause sind: Sie kennen die mythologischen Protagonist:innen und Bilder aus ihrer Freizeit und es lassen sich anregende Gespräche darüber führen, warum Mythen die Alltagskultur so nachhaltig durchdringen.
Große Sympathien, besonders bei den Mädchen, gewinnt oft die Figur Brünhild. Sie verfügt zu Beginn der Handlung über unermessliche körperliche Stärke und jeder, der um sie werben möchte, muss sich mit ihr im Kampfspiel messen. Der Burgunderkönig Gunther ist ihr nicht gewachsen, möchte sie aber heiraten, und gemeinsam mit Siegfried überlistet er sie und gewinnt sie unrechtmäßig zur Frau. Als sie sich in der Hochzeitsnacht Gunther verweigert, eilt erneut Siegfried herbei, der Brünhild schließlich auch sexuell gefügig macht. Brünhild verliert daraufhin ihre körperliche Stärke, ist im Wortsinne eine gebrochene Frau und spielt im weiteren Verlauf der Handlung bald keine Rolle mehr. Das Unterrichtsgespräch über diese Passage ist in den Klassen besonders hitzig. Diskutiert wird die Frage nach der Vergewaltigung und der perfiden Schuld von Siegfried und Gunther. Und spätestens in diesem Zusammenhang verliert die Heldenfigur Siegfried bei den meisten Schüler:innen sein verklärtes Image.
Einseitigkeit literarischer Erfahrung
Nun kann ich als Lehrerin dieses Geschehen aus zweierlei Perspektiven sehen. Zum einen freue ich mich mit den Schüler:innen über die außergewöhnlich starke und selbstbewusste weibliche Figur. Ich freue mich auch über den Gesprächsanlass, den uns die Lektüre hier bietet: Gewalt an Frauen zu thematisieren und in Bezug auf unsere Gegenwart zu reflektieren. Zum anderen verfolge ich mit den Schüler:innen aber auch ein Frauenschicksal, das uns in unterschiedlichen Variationen mehr oder weniger stark in allen der oben genannten Deutschepochen der Oberstufe begegnet. Ohnmachtspositionen, für die Brünhild hier nur beispielhaft, wenn auch besonders eindrücklich steht, werden im Lektürekanon fast ausschließlich von Frauen eingenommen. Die Mehrheit der literarischen Texte in der Schule sind männlich perspektivierte Lektüren, geschrieben von Autoren.
Dabei ist der Einzelfall nicht entscheidend. Es geht um die Gesamtheit literarischer Erfahrungen, die Schüler:innen im Deutschunterricht machen und die damit einhergehende Einseitigkeit dessen, was Literatur eigentlich zu bieten hat. Die Kraft der Literatur liegt in ihrem Erfahrungsschatz, den ich als Leser:in heben kann. Ich kann Perspektiven einnehmen, die ich kenne und solche, die ich nicht teile und so ein Verständnis für mich als Individuum und für meine Mitmenschen entwickeln, das biografieprägend sein kann. Für den Literaturunterricht stelle ich mir also die Frage: Wer darf hier welche Texte lesen?
Dabei geht es mir nicht nur um weibliche und männliche Perspektiven, denn die Einseitigkeit literarischer Erfahrung in der Schule geht darüber hinaus. So beschäftigt mich sehr, dass Mittelalter und Goethezeit mit je zwei Epochen in der Oberstufe einen so prominenten Stellenwert im Lehrplan einnehmen und dabei anderen Literaturepochen kein gesetzter Platz eingeräumt wird. Ähnlich verhält es sich mit dem Einbezug nicht-deutscher Perspektiven für den Deutschunterricht, der angesichts der großartigen Weltliteratur, die es zu entdecken gilt, ein umfassender Literaturunterricht werden müsste. Die Debatte lässt sich leicht ausweiten und umso schwerwiegender werden die Fragen, die ich mir stelle. Fragen, die ich nicht leichtfertig beantworten kann und will.
Denn was ich unter dem Stichwort Einseitigkeit verstehe, ist lediglich ein Abbild der Literaturgeschichte. Auch sehe ich das große Potenzial, das die etablierten Schullektüren bieten, ich unterrichte sie gerne. Ich bin aber auch zunehmend und zurecht mit Schüler:innen konfrontiert, die sich eben diese Fragen auch stellen und von mir einfordern, was ihnen fehlt. Ich habe Fachkolleg:innen, die die genannten Lektüren nicht mehr unterrichten wollen und ich habe solche, die es nicht für nötig halten, diese Fragen überhaupt zu stellen. Beides halte ich für falsch.
Wünschenswert wäre es, in einen Austausch zu kommen und die Perspektive auf unseren Unterrichtsstoff zu weiten – in den Waldorfseminaren, in den Kollegien, schulübergreifend. Dies geschieht bereits intensiv im Fachbereich Geschichte, anderswo erlebe ich eine erstaunlich unkritische Haltung gegenüber dem, was seit Jahrzehnten gelehrt wird. Schüler:innen sind darauf angewiesen, was Lehrkräfte in ihrem Unterricht wagen. Umso dringender braucht es eine Diskussion zu den Lehrplänen über die individuelle Unterrichtsgestaltung hinaus. Dabei geht es mir nicht darum, zu streichen, was da ist, sondern darum, wie wir es lesen und was es darüber hinaus Großartiges zu entdecken gibt.
Weiterlesen: Schöne Vorschläge für einen diversen Literaturkanon macht zum Beispiel Teresa Reichl in ihrem Buch Muss ich das gelesen haben? (Haymon Verlag 2023) und auf ihrer Website www.theresareichl.com.
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