In der sechsten Klasse steht das Thema Europa auf dem Programm, aber in diesem Jahr habe ich mich – angeregt von einem Projekt des Waldorfpädagogen Sven Saar – für einen anderen Zugang zur Erdkunde entschieden: nämlich vom Ganzen auszugehen, gleich die gesamte Erde in den Blick zu nehmen und mit den Händen erfahrbar zu machen. Für Sechstklässler:innen, die wie wir alle täglich mit der Globalisierung und ihren Folgen leben, schien mir dies ein sinnvolles Vorgehen zu sein. Gerade auch das Interesse meiner Schüler:innen an Umweltfragen konnte aufgenommen werden und der Charme dieser Herangehensweise entpuppte sich im Tun immer stärker: «Wir machen noch die Rocky Mountains fertig», hörte ich, wenn wir aufräumen sollten. «Ich brauche noch ein großes Kleinasien», erschallte ein anderer Ruf durch die Klasse. Wer die Anden selbst mit Pappmaché geformt hat, wird wohl nicht vergessen, wo sie liegen, so die Hoffnung. Und wie riesengroß Afrika ist, wie unendlich weit der Pazifik, wie klein dagegen unser Europa – das lässt sich in Atlanten oft nicht richtig abschätzen.
Die Fächer Geografie, Naturkunde und Umwelterziehung konnten hier leicht zueinander gebracht werden. Und durch individuelle Projekttagebücher wurde auch Deutsch unterrichtet. Wir haben alle viel gelernt. Das Gradnetz auf den großen Erdball aufzubringen, gehörte zu den großen Herausforderungen und hier war Teamarbeit gefragt: den Globus halten, mit dem Maßband messen und die beiden unterschiedlichen Schnitte für die Längenmeridiane und die Breitengrade verstehen. Das alles gelang in den Kleingruppen, in denen die Globen entstanden. Wie finde ich überhaupt den Südpol, wenn ich den Gummischniepel des Luftballons als Nordpol nehme? Zum Glück hatten wir den großen Schulglobus zum Abgucken und zum Abpausen für die Schablonen, die wir für die Kontinente brauchten. Erstaunlich auch zu sehen, wie die Pole eigentlich gestaltet sind, die doch im Atlas immer irgendwie am Seitenrand verschwinden… Bei manchen Kindern wuchs ein großer Ehrgeiz, die Landmassen und Eiswüsten möglichst genau aufzuzeichnen.
Der «normale» Unterricht wurde freundlich zur Kenntnis genommen: Wir hörten über die verschiedenen europäischen Länder, beleuchteten Polaritäten von Nord und Süd sowie Ost und West und wussten doch, dass wir es nur mit einem winzigen Ausschnitt der Welt zu tun hatten. Referate und Plakate durften deshalb auch zu allen anderen interessanten Ländern der Welt gestaltet werden.
Die Arbeit an der Erdkugel und deren Entstehen war in besonderer Weise motivierend. Hier entfaltete sich die ganze Freude und Schöpfer:innenkraft. Schon als die Kontinente eingezeichnet waren, sah ich als Lehrkraft in zufriedene Gesichter. Dann aber erst der magische Moment, in dem die Farben kamen: als das geschäftige Summen in der Klasse andächtig und ehrfürchtig wurde, weil die Erde als lebendiger Organismus mittelbar erlebt werden konnte. Stolz und glücklich nahmen die Kinder ihre Globen in die Arme. Und was auch deutlich wurde: wir leben hier alle zusammen auf unserer schönen Erde. Lasst uns sie bewahren und beschützen, wir haben nur die eine.
Ausgabe 07-08/24
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