Ausgabe 01-02/25

Wer kennt schon jüdische Menschen?

Lena Ashkenazi
Marcus Oberreuter


Wie wäre es, wenn sich jüdische Schüler:innen in Zukunft nicht mehr allein fühlen müssten? Wenn hin und wieder in verschiedenen Unterrichtseinheiten ihre Themen behandelt würden? Themen der religiösen Traditionen und Feste, Themen des Alltags oder der Familienkultur. Wenn sich ein kleines Stückchen der Lebenswirklichkeit dieser Schüler:innen auch im Unterricht und in der Schulkultur wiederfinden würde?

Versteckt und unsichtbar


Das wäre schön, für jede religiöse und kulturelle Tradition. Die Ideen zur Beschäftigung mit dem Judentum im Unterricht schwanken oft zwischen best und worst practice. Dabei ist die Angst, etwas falsch zu machen, leider nicht unberechtigt. Unbedachtheit führt mitunter zu einer Verschlimmbesserung. Eine weitere Komplikation: Die Shoah hat der Beschäftigung mit dem Thema Judentum in Europa unumgänglich seinen Stempel aufgeprägt. Natürlich muss nicht betont werden, dass das Judentum mehr ist als eine Bevölkerungsgruppe in Europa, die von den Nazis bis auf wenige Überlebende vernichtet wurde. Das Judentum sollte auch mehr sein als erinnerungspolitische Verhandlungsmasse deutscher Geschichtsidentität. Das Judentum waren und sind tatsächlich ganz unterschiedliche Individuen. Sie sind jedoch im Alltag oft unsichtbar und haben leider lernen müssen, sich aus Selbstschutz vor den anderen zu verstecken, sich nicht zu outen. Wer kennt schon jüdische Menschen?

Ansätze für einen modernen Geschichtsunterricht


Als better practice möchten wir mögliche Ansätze und Aspekte in der Beschäftigung mit dem Thema Judentum aufzeigen. Das Wichtigste ist, dass sich die Schüler:innen in der Unter- und Mittelstufe mit dem Thema Judentum beschäftigen, bevor sie von der Shoah oder von den Kriegen in Nahost erfahren. Das ist gar nicht so einfach, denn Unkenntnis, Vorurteile und Ausgrenzung anderer leben ja auch in uns allen. Dagegen «anzuunterrichten» ist sicherlich eines der Gebote für uns Lehrer:innen. In der Unterstufe könnte behandelt werden, wie der Alltag in jüdischen Familien aussieht, wie jüdische Feste gefeiert werden oder wie der Gottesdienst in einer Synagoge gefeiert wird. Schnell lassen sich Gemeinsamkeiten zu anderen Religionen finden, Lichterfeste in der dunklen Jahreszeit und Lieder für Weihnachten und Chanukka mit denselben Melodien. Noch besser als Unterricht wäre der Kontakt zu einer Gemeinde. Begegnung und Austausch sowie Gespräche unter Gleichaltrigen sind die beste Medizin gegen Intoleranz und Vorurteile. Schon bevor der Geschichtsunterricht in der Waldorfschule beginnt, wird traditionell an Waldorfschulen die jüdische Schöpfungsgeschichte unterrichtet. Diese soll hörbar erlebbar gemacht werden, indem die Schüler:innen die ersten Verse des Bereschit auswendig lernen und aufsagen. Inwieweit die Schüler:innen dies allerdings in einen jüdischen Kontext setzen, bleibt offen. Dieser Kontext kann und sollte unbedingt im Unterricht angeboten werden Ein Kinderbuch wie zum Beispiel Lena feiert Pessach mit Alma von Myriam Halberstam liefert hier erste Berührungspunkte.

In den Jahren des Geschichtsunterrichts an der Waldorfschule, es sind rund 200 Hauptunterrichte, sollten Themen zur jüdischen Geschichte in jedem Schuljahr in das Curriculum eingewoben werden. Dabei geht es nicht darum, sich krampfhaft mit dem Judentum zu beschäftigen. Wir rekurrieren hier auf die Anfangsfrage und erweitern sie: Wenn im Unterricht Themen, die inmitten der Klasse und der Schüler:innenschaft leben, ernst genommen werden und dann im Unterricht widerhallen, diskutiert und in die Herzen geholt werden, dann fühlen sich die einzelnen Schüler:innen nicht allein. Empathie ist hier dringend vonnöten. Niemand sollte hören müssen: «Seid ihr nicht die, die alle ermordet wurden?» Man könnte zum Beispiel Brücken schlagen zwischen Schüler:innen aus der Ukraine und jüdischen Schüler:innen und jüdisches Leben in der Bukowina mittels deutscher, jiddischer und russischer Dichtung beleuchten.

An der Art und Weise, wie wir Schüler:innen die Zeit der Shoa, also den Völkermord der NS-Zeit, vermitteln, hat sich seit Jahrzehnten nicht viel verändert. Es wird in den Klassen 7 bis 9 mal im Deutschunterricht, mal im Geschichtsunterricht, mal im Religionsunterricht zu altbewährten Rezepten gegriffen: das Tagebuch der Anne Frank, Judith Kerrs Als Hitler das rosa Kaninchen stahl und Hans Peter Richters Damals war es Friedrich. Wie wäre es mit neuen Rezepten? Neuen Zugängen? Schüler:innen werden durch die sicherlich bewegende Lektüre dieser Bücher nicht imprägniert, auf dass fortan jeder Antisemitismus an ihnen abperle. Es braucht mehr! Zum Beispiel Biografien jüdischer Menschen, die überlebt haben und die etwas hinterlassen haben. Das jüdische Museum Berlin hält beispielsweise eine übersichtliche Literaturliste bereit. Der Geographieunterricht könnte hier neue Zugänge ermöglichen, weil eine jüdische Spurensuche in der Stadt manchmal deutlich mehr Verbindung und Nähe herstellt als Literatur aus den 1970ern.

Einfühlsam statt trocken


Geschichtslehrer:innen wissen oft allerlei über Amputationstechniken in Feldlazaretten des Ersten Weltkriegs oder über zehneinhalb Zentimeter große Flak-38-Geschütze im Zweiten Weltkrieg. Leichenberge aus den Lagern werden im Unterricht gezeigt. Es scheint, als stünden sie den grausigen Themen teilnahmslos gegenüber. Sie haben in den trockenen Seminaren im Studium gelernt, den Gegenstand Gegenstand sein zu lassen. Im Unterricht ist das anders. Schüler:innen nehmen Anteil. Unser Appell: Ein einfühlsamer, zugewandter Unterricht. Der Unterricht sollte stets so gestaltet sein, dass er nicht achtlos verletzt. Würde ich den Unterricht genauso machen, wenn jüdische Schüler:innen in der Klasse säßen? Auch aktuelle Geschehnisse sollten in der Schule Raum haben. Der seit dem 7. Oktober 2023 andauernde Krieg in Nahost oder die dutzenden antisemitischen Übergriffe auf den Straßen in Deutschland, die zuweilen antizionistisch motiviert sind, interessieren die Schüler:innen. Diese Themen zu greifen, ist nicht einfach und erfordert Fingerspitzengefühl. Der Politikunterricht in der Oberstufe ist sicherlich ein guter Ort dafür. Es steht aber jeder Lehrkraft frei, diese Themen in jedem (!) Unterrichtsfach zu behandeln. Nur Mut!

In den letzten Jahren haben sich auch an Waldorfschulen Verschwörungsmythen verbreitet. Diese Mythen haben fast immer eine deutliche Nähe zu antisemitischen Vorurteilen. Die Gefahr ist also gewachsen. Die pauschale Vermutung, man habe mit Antisemitismus nichts zu tun, es gebe ja schließlich keine jüdischen Menschen an der Schule und Hakenkreuze seien «übliche Kritzeleien», ist ein Irrtum, auf den 2023 Marina Chernivsky und Friederike Lorenz-Sinai in ihrem Band Antisemitismus im Kontext Schule hingewiesen haben. «Das Vergangene ist nicht tot; es ist nicht einmal vergangen. Wir trennen uns ab und stellen uns fremd.» Das schrieb Christa Wolf direkt zu Beginn in ihrem autobiografischen Roman Kindheitsmuster im Jahre 1967. Es gibt viele Möglichkeiten, dass wir alle, Schüler:innen, Lehrer:innen, alle dazwischen und außerhalb und natürlich die Eltern, dass wir alle uns erneut verbinden. Verbinden mit den Menschen und Themen um uns herum.

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