Ausgabe 04/25

Werken in der Unterstufe? Ja, bitte

Heike Birk
Thomas Verbeck


In der Handwerks- und Hausbauepoche einer dritten Klasse genießen es die Kinder mit anzupacken, sind stolz auf ihre Arbeit und ihre Einblicke in die verschiedenen Gewerke. Bis sie jedoch richtigen Werkunterricht erhalten, müssen sie unter Umständen noch zwei Schuljahre warten.

Als 1919 die erste Waldorfschule in Stuttgart gegründet wurde, sah das Schulgesetz in Baden-Württemberg vor, dass in der sechsten Klasse mit dem Werkunterricht begonnen wurde. Auch die neue Waldorfschule musste sich an diese Vorgaben halten. Ein detaillierter Lehrplan für das Werken wurde nicht ausgearbeitet, jedoch gab es schon früh erste Vorschläge Rudolf Steiners an den Kunstlehrer Max Wolffhügel, die Kinder Kochlöffel oder bewegliches Spielzeug fertigen zu lassen. Kurz nach dem Ersten Weltkrieg war die Not groß, Gebrauchsgegenstände waren den Familien nützlich, Spielzeuge den kleineren Geschwistern eine kostbare Freude. Steiner war es nicht recht, erst in der sechsten Klasse zu beginnen. Er hätte es gerne anders gehabt, geht am 23. August 1922 in Oxford noch einmal darauf ein, «… dass wir die Kinder allerlei praktische Arbeit machen lassen. Wir sind es jetzt nur in der Lage vom sechsten Schuljahr ab; manche von diesen Dingen gehören in ein früheres Alter, aber – ich habe es schon erwähnt – wir mussten eben Kompromisse schließen. Das Ideal wird man erst später erreichen können – dann wird das, was jetzt ein elf- oder zwölfjähriges Kind macht, auch ein neunjähriges Kind machen können, auch in Bezug auf praktische Arbeiten.»

Tradition und gesunder Menschenverstand


Zu Steiners Lebzeiten hat sich das in Stuttgart jedoch nicht mehr geändert und die Pädagogin Caroline von Heydebrand hielt den Status quo in jenem Lehrplan fest, der seit nun 30 Jahren durch das umfangreiche und ständig in Veränderung befindliche Werk von Tobias Richter abgelöst ist.

Auch wenn einige Schulen mit der Zeit den Beginn des Werkens in die fünfte Klasse verlegt haben, blieb diese Hoffnung Steiners, die er in Oxford äußerte, lange unbeachtet. Im Gegenteil, es setzte sich eine Ansicht durch, unter Zwölfjährige sollten wegen ihrer unausgereiften Handwurzelknochen noch keinen Werkunterricht bekommen. Egal, wie wenig jemand aus dem Waldorfbereich über das Thema Beginn des Werkunterrichtes weiß, von dem Argument mit den Handwurzelknochen haben wohl die meisten schon einmal gehört. In Michael Martins Standardwerk Der künstlerisch handwerkliche Unterricht an der Waldorfschule erläutert Herbert Seufert in einem Aufsatz über die Metallbearbeitung in der Oberstufe, dass die Hand erst mit ausgereiftem Handwurzelknochen unbeschadet schwere Arbeiten verrichten kann, wie sie bei der Metallbearbeitung vonnöten sind. Damit hat er wahrscheinlich Recht, eine andere Haltung zum Handwurzelknochen ist mir noch nicht begegnet und vermutlich würde niemand Drittklässler:innen einen kiloschweren Schmiedehammer geben, um eine Doppelstunde lang damit zu arbeiten. Reicht das aber als Begründung, erst in der Mittelstufe mit dem Werkunterricht zu beginnen?

Feinmotorik im modernen Alltag


Heute noch viel mehr als vor hundert Jahren ist es nötig, dass Kinder im Grundschulalter ihre Feinmotorik trainieren, denn in vielen Familien finden so basale Tätigkeiten wie Kochen, Feuerholz tragen oder hacken, Tiere versorgen, Ofen anzünden oder Renovieren und Bauen gar nicht mehr oder nur noch selten statt. Viele Waldorfschulen tragen diesem Bedürfnis der Kinder Rechnung, indem sie handlungspädagogische Angebote in den Schulvormittag einbauen: Waldzeit, Arbeit auf dem Schulbauernhof und Ähnliches stärken das Selbstwirksamkeitserleben der Kinder und werden von Kindern, Eltern und Pädagog:innen gleichermaßen geschätzt. Viele Waldorfschulen beginnen bereits in der vierten Klasse mit dem regulären Werkunterricht, manche sogar noch früher.

Bei uns in Kastellaun beginnen die Werkstunden seit der Schulgründung 2007 in der Kombiklasse aus dritter und vierter Jahrgangsstufe, seitdem hat sich das Werken in der Unterstufe etabliert. Als ich in der berufsbegleitenden Fachausbildung erfuhr, dass das der Handwurzelknochen wegen eigentlich gar nicht ginge, war ich ziemlich erstaunt. Gut, dass ich eine der wenigen war, die davon noch nichts gehört hatte.

Stück für Stück


Weder in Kastellaun und noch in anderen Schulen wird im Werkunterricht der Unterstufe Metall mit schweren Hämmern geschlagen. In den ersten beiden Schuljahren werden Naturmaterialien gesammelt, weiterverarbeitet und der Natur wieder zurückgeschenkt. Papier, Pappe, Wolle und Schnüre, Holzscheiben, Wachs und Ton sorgen für haptische und ästhetische Erlebnisse, stärken die Feinmotorik und das Formempfinden. Im Schulgarten können Weidenzäune geflochten und Beete angelegt werden, die dann im Jahr darauf in der Ackerbauepoche bestellt werden wollen. Das Schnitzmesser kommt im größeren Stil erst in der dritten Klasse zum Einsatz, die Klinge ist kurz und der Griff für eine Kinderhand gerundet. Jetzt erlernen die Kinder verschiedene Schnitztechniken und stellen erste Spielzeuge und Gebrauchsgegenstände her, überwiegend aus frischem Astholz. Wird das Handschnitzen gut beherrscht, darf sich jedes Kind ein eigenes Schnitzmesser herstellen und in der vierten Klasse können schon erste Arbeiten an der Werkbank in Angriff genommen werden. Mit kleinen, der Kinderhand angepassten Holzhämmern, versteht sich. So geht das Werken in der Unterstufe langsam in das klassische Mittelstufenwerken über.

Wie Angebote schaffen?


Die neue Online-Ausgabe des Richter-Lehrplanes auf forschung-waldorf.de ist um entsprechende Angaben für den Werkunterricht in den unteren Klassen erweitert worden, sodass die Unterrichtsangebote, die in diesem Bereich bereits stattfinden, durch einen breiteren Austausch weitere Anregungen und Vertiefungen erlangen. Wer Interesse hat, das Thema Werken in der Unterstufe an der eigenen Schule in den Fokus zu nehmen, muss nicht gleich feste Fachstunden generieren. Dennoch ist natürlich in vielen der genannten Beispiele eine Doppelbesetzung oder die Hilfe von Eltern nötig oder die Arbeiten erfordern eine kleinere Gruppe. Ein Ansatz kann fürs Erste sein, die Lücken zu nutzen, die im Schulorganismus meist ohnehin irgendwann auftauchen. Nimmt die Klassenlehrkraft für ein Projekt Eltern dazu, kostet es nichts. Sind Werkkolleg:innen bereit, Vertretungen zu übernehmen und bereiten sich entsprechend vor, kostet es, abgesehen von der regulären Vertretungsregelung, auch nichts. Auch der Nachmittagsbereich kann Räume schaffen, um Werkangebote zu machen. Eine kollegial-kreative Zusammenarbeit zwischen Fach- und Klassenlehrer:innen eröffnet mit­unter Horizonte, die zu gelingenden Begegnungen führen können. Hat man jedoch erst einmal begonnen, solche Werkangebote in den unteren Klassen durchzuführen, werden die Rückmeldungen von Kindern und Eltern sicher dazu beitragen, hier noch kreativer im Aufspüren von Gelegenheiten zu werden und auch kollegiale Mitinteressierte zu finden, das Thema voranzubringen.

Weitere Infos: wiki.waldorf-werklehrer.de

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