Ausgabe 12/24

Wider den Missbrauch der Neutralität

Albrecht Hüttig
Frank Steinwachs


«Wir müssen als Schule neutral bleiben!» oder «Als Schule müsst ihr euch neutral verhalten und allen einen Raum geben!». Offen bleibt in solchen Situationen, was «allen» und vor allem was «neutral» bedeutet. Nehmen wir das Wort alle im Sinne der Neutralität einmal ernst: Es kann nicht sein, dass jede Äußerung, sei sie noch so absurd, gelogen oder menschenfeindlich, ein ernstzunehmender neutraler Beitrag zur gesellschaftlichen Debatte in einem Rechtsstaat ist. Neue Fantasien zur Remigration, Fantasien zur Diskriminierung und Ausgrenzung oder neuerdings auch zur Vernichtung ganzer Staaten – egal ob Israel, Palästina, die Ukraine oder Taiwan gehören zu solchen Äußerungen. Und das sind nur die politischen Positionen, es gibt noch ganz andere. Es kann wohl kaum eine Neutralität im Sinne eines ethischen Diskurses innerhalb eines Rechtsstaates sein, «allen» Äußerungen Raum zu geben. Und trotzdem wird sie immer wieder von einzelnen Eltern und Kolleg:innen beschworen und eingefordert in dem Sinne, dass alle Beiträge ihre gleichwertige Berechtigung haben – aus Unsicherheit, aber auch aus einer irritierenden Überzeugung. Neutral ist in diesem Sinne ein verführerisches Moment, da dessen Framing und dessen inhaltliche Deutungshoheit ein Mittel zur Durchsetzung weltanschaulicher wie partikularer Interessen sind und damit aktiv missbraucht werden können und werden.

Antidemokratisches Denunzieren


Dies hat zuerst die Hamburger AfD versucht, als sie mit ihrer online gestellten Denunziationsplattform für Lehrer:innen, die sich kritisch gegenüber ihrer Politik zeigten, Druck ausüben wollte, beispielsweise einen kritischen Politik- und Sozialkundeunterricht zu unterbinden. Und dies unter dem offiziellen Titel Neutrale Schulen Hamburg. Aber das war nicht nur absurd, sondern zutiefst antidemokratisch und der Versuch, Unsicherheit zu schaffen und dadurch Druck auf Lehrer:innen aufzubauen, die einen problemorientierten und kritischen Unterricht betrieben – ganz im Sinne ihres gesellschaftlichen Auftrages. Neutralität ist das nicht, im Gegenteil: Vielen bekannt ist mittlerweile der Beutelsbacher Konsens, der 1976 von den Sozialwissenschaften formuliert wurde, um eine Manipulation der Schüler:innen in der Schule zu verhindern. Er besagt, dass die Kinder nicht qua Autorität der Unterrichtenden überwältigt werden dürfen, dass es eine multiperspektivische Sicht auf die Dinge geben muss und dass die Quellen sprechen müssen, um sich ein eigenes Bild machen zu können. Das ist eine methodische wie inhaltliche Form der Neutralität, an der sich jede politische Haltung messen lassen muss: ein fachlich begründeter, multiperspektivischer Diskurs der Heranwachsenden, welcher auf der Grundlage der Eigenäußerungen untersuchter Gruppen oder Personen basiert. Und das bedeutet auch, sich über weltanschauliche Fragen zu streiten und zu diagnostizieren, was sich außerhalb eines humanistischen Konsens‘ befindet, wie er im Grundgesetz verankert und Leitbild unserer Gesellschaft ist. Dem Gedanken des Beutelsbacher Konsens' folgend beträfe dies nicht nur die Ampel, der zurzeit alle Häme sicher zu sein scheint, sondern auch die AfD und ihre politische Programmatik sowie die Äußerungen ihrer Mandatsträger:innen und derjenigen, die solche teilen. Auf der anderen Seite bedeutet dies auch, dass Schulen wie Eltern rechtlich die Möglichkeit haben, gegen Lehrer:innen, die tatsächlich manipulativ im Unterricht wirken, vorzugehen, was ebenso wertvoll ist – wir befinden uns eben in einem Rechtsstaat. Und damit sind wir mitten im gesellschaftlichen Diskurs.

Maßstab Menschenrechte


Dieses Gebot, dieser Konsens beinhaltet, dass sich Lehrkräfte nicht parteipolitisch im Unterricht engagieren und tendenziös auf die Urteilsbildung der Schüler:innen einwirken. Dieses Gebot beinhaltet auch, dass Lehrkräfte grundrechtsverletzende Äußerungen  zum Beispiel gegenüber Menschen mit Migrationshintergrund oder einer bestimmten Religion, Holocaustleugnungen oder Verherrlichung der NS-Zeit in dem Sinn thematisieren, dass deren zerstörende und menschenverachtende Wirkung erfassbar werden kann. Hiermit kann ein Spannungsverhältnis verbunden sein, da solche Äußerungen auch im Unterricht oder in Unterrichtspausen seitens der Schüler:innen auftreten können und als freie Meinungsäußerungen deklariert werden. Es gilt sie ernst zu nehmen und dem gemeinsamen Urteilsprozess zu unterziehen, deren Maßstab die Menschenrechte bilden. Ferner bedarf es klarer Grenzziehungen, zum Beispiel im Falle des Toleranzparadoxons. Toleranz kann nur positiv wirken, wenn sie von allen vertreten wird. Wer Toleranz für sich einfordert, sie aber anderen gegenüber verweigert, muss die selbst gezogene Grenze in der Auseinandersetzung gespiegelt bekommen. Menschenrechte, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit sind Werte, die es zu verteidigen gilt und die es zu verteidigen lohnt. Fehlen sie, führt das zu Unterdrückungen bis hin zu Vernichtungen und Kriegen – wie aus der Geschichte ersichtlich.

Schulische Bildung, auch an Waldorfschulen, vollzieht sich also nicht in einem isolierten Raum, sie ist Bestandteil des gesellschaftlichen Lebens mit allen Facetten. Das Ziel der Waldorfpädagogik besteht unter anderem darin, den heranwachsenden Kindern und Jugendlichen die Chancen zu ermöglichen, auf dem Weg ihrer Individualisierung und Identitätsbildung die eigenen Fähigkeiten zu entfalten, fundierte Einsichten in unsere globale Welt zu erwerben und letztendlich zu einem eigenen Lebensentwurf gelangen zu können. Diese Ziele haben als ein wesentliches Fundament die Grund- und Menschenrechte, denn sie gelten für jedes Individuum, unabhängig von Herkunft, Geschlecht, Religion et cetera. Zu diesen Grundrechten gehört auch Bildung, eine verfassungsmäßig formulierte Größe. Die Grund- und Menschenrechte sind gleichzeitig das Fundament für soziale Gemeinschaften. Sozialfähigkeit wiederum wird im Umgang mit anderen Menschen erworben und erlernt – ebenfalls ein Ziel der Waldorfpädagogik, zu welcher selbstverständlich auch Waldorfkindergärten gehören.
Soziales Handeln ereignet sich im Waldorfkindergarten, im Klassenzimmer, bei schulischen und außerschulischen Unternehmungen, im Elternhaus und nicht zuletzt im Freundeskreis. Es begleitet uns also täglich. So wird die grundlegende Bedeutung, Mitmenschen mit Würde und Respekt zu begegnen, Toleranz zu entwickeln, den eigenen Horizont durch Begegnungen mit Andersartigem zu erweitern, erlebt und erlernt. Dieser Prozess ist offen und begleitet uns Menschen während der ganzen Biografie. In den Fächern Politik, Gemeinschafts- oder Sozialkunde der Oberstufe wird für solche grundlegenden Themen der Raum eröffnet.

Steiners Apell für Menschenwürde


Es sei daran erinnert, dass zur Zeit der Gründung der ersten Waldorfschule Rudolf Steiner diese Thematik angesprochen hat. So geht eine seiner Anregungen in die Richtung, Pädagogik müsse darauf ausgerichtet sein, dass sich «für echte, wahre Menschenwürde die entsprechende Empfindung, der entsprechende Empfindungskomplex in dem Kinde» entwickeln und mit dem Jugendalter «das Gefühlsurteil … zum intellektuellen Urteil» individualisiert werden könne. An Aktualität hat das heute nicht verloren.

Eine ausführliche Darstellung und Analyse kritischer Momente, wie sie hier skizziert wurden, resultiert aus der zunehmenden Erfahrung, dass der Begriff Neutralität zu einem Instrument ideologisierter Interessen geworden ist und zu Verunsicherung führt. Diese Darstellung wurde im Auftrag der Fachstelle für Rassismus, Diskriminierung und Extremismus des Bundes der Freien Waldorfschulen von Albrecht Hüttig vorgelegt und ist als Orientierungshilfe konzipiert – primär für Lehrkräfte und für die Arbeit in pädagogischen Konferenzen, aber auch als Entscheidungsgrundlage in eben diesen Fragen. Sie ist unter Beachtung pädagogischer Gesichtspunkte und rechtlicher Normen für die Waldorfschulen sowie Schulen im Allgemeinen entstanden. Dieses Positionspapier ist durch den Verein Bildungseinrichtungen gegen Rechtsradikalismus und über die Homepage des Bundes der Freien Waldorfschulen allgemein zugänglich und schafft Klarheit gegenüber dem bereits zum Mythos gewordenen Begriff Neutralität.

Weitere Informationen unter:
www.waldorfschule.de/beratung-kontakt/schulen-gegen-politischen-extremismus/neutralitaetsgebot-und-bildungsauftrag

Kommentare

Es sind noch keine Kommentare vorhanden.

Kommentar hinzufügen

0 / 2000

Vielen Dank für Ihren Kommentar. Dieser wird nach Prüfung durch die Administrator:innen freigeschaltet.