«Die heutigen Geldsysteme sind alle programmiert auf exponentielles Wachstum», kritisiert Christian Gelleri. «Ich bin davon überzeugt, dass eine Währung im Idealfall mit der Umwelt und dem Menschen korrespondiert.» Eine Utopie? Werfen wir zunächst einen Blick zurück in das Jahr 2002: Christian Gelleri unterrichtet an der Waldorfschule in Prien. Zu diesem Zeitpunkt ringen zwei Schüler:innenunternehmen um eine Geschäftsidee. Der ehemalige Lehrer erinnert sich: «Eine Gruppe von sechs Schülerinnen griff meinen Gedanken auf, Gutscheine für die Region zu entwickeln. Die jungen Leute gingen bei der Umsetzung sehr pragmatisch vor. Sie entwickelten einen Fragebogen und setzten einen dreitägigen Testlauf um.» Die Resonanz der Teilnehmenden war überwältigend positiv. Und so entstand der Wunsch, das Thema in größerem Stil aufzuziehen. Die Idee «Chiemgauer» nahm Formen an.
Zahlungsmittel in drei Landkreisen
Heute ist das Chiemgauer Regionalgeld ein lokal verfügbares Zahlungsmittel in den Landkreisen Rosenheim, Traunstein und Berchtesgadener Land. In über 400 heimischen Betrieben kann damit eingekauft werden – gleichberechtigt zum Euro. Das funktioniert sogar bargeldlos: Nach Anmeldung erhalten Teilnehmer:innen eine Regiocard zugestellt, die mit dem Girokonto der eigenen Hausbank verknüpft ist. «Der Zahlungsvorgang beim Einkaufen ist ebenso schnell erledigt wie mit einer Girocard», berichtet Christian Gelleri. Mit der Regiocard lassen sich aber auch Chiemgauer-Scheine in gewünschter Höhe bei regionalen Wechselstellen abheben. Betriebe können den Chiemgauer ihrerseits für Einkäufe im Chiemgauer-Netzwerk verwenden. Wollen Firmen Chiemgauer in Euro zurücktauschen, fällt eine Gebühr von fünf Prozent an. Davon finanzieren zwei Prozent den Betrieb des Regionalgeldsystems. Drei Prozent kommen demjenigen Verein zugute, der von den Konsument:innen zu Beginn ihrer Mitgliedschaft als Förderzweck angegeben worden ist. Das erste gemeinnützige Projekt war beispielsweise der Neubau einer Turnhalle für die Waldorfschule Prien. Über 58.000 Chiemgauer flossen durch Einkäufe von etwa 100 Personen als Fördergeld in den Bau.
Der Anthroposophie verbunden
Ein Waldorfschüler sei er selbst nie gewesen. «Sowas gab’s zu meiner Zeit leider noch nicht in Rosenheim», bedauert Christian Gelleri, der 1973 geboren ist. Doch aus seiner Familie erhielt er erste, für ihn wegweisende Impulse. «Meine Großmutter mütterlicherseits war eine belesene Frau», berichtet der Pädagoge. «Sie beschäftigte sich unter anderem mit Freiwirtschaft und Gesellschaftsalternativen. Ich schätze noch heute ihr geistiges Erbe und die lehrreichen Bücher aus ihrer Bibliothek.» Gelleris Großvater wiederum brachte die Grundsätze der biologisch-dynamischen Landwirtschaft ein. «Ab 1930 baute er in Schlesien eine kleine Gärtnerei nach Demeter-Prinzipien auf», erinnert sich Christian Gelleri. Der Enkel studierte zunächst Betriebswirtschaftslehre an der TH Rosenheim, später Volkswirtschaftslehre und Wirtschaftspädagogik an der LMU München. «Parallel zu meinem Studium beschäftigte ich mich mit Anthroposophie und entwickelte den Wunsch, später in Richtung Waldorfpädagogik zu gehen», erzählt Christian Gelleri. Schon damals habe er sich mit dem Thema Regionalgeld befasst, interessierte sich für freiwirtschaftliche Experimente und für die Soziale Dreigliederung, insbesondere für das assoziative Wirtschaften.
Handlungsorientierter Unterricht
Vor dem Chiemgauer wurden die Schüler:innenunternehmen an der Waldorfschule in Prien immer nur ein Jahr lang betrieben. Doch die Regiogeld-Idee ließ sich nicht mehr stoppen. Die folgende Schulklasse übernahm. Christian Gelleri betont: «Getreu dem Konzept des handlungsorientierten Unterrichtes stellten wir immer die konkrete Tätigkeit in den Vordergrund.» Und tätige Hände waren in der Tat unverzichtbar: Waren es im Jahr 2003 noch 20 teilnehmende Unternehmen, die 70.000 Chiemgauer Umsatz erwirtschafteten, sorgten bereits zwei Jahre später 200 Betriebe für einen Jahresumsatz von über 300.000 Chiemgauern. Dieses Ausmaß sprengte die Kapazitäten der schulischen Arbeit. Christian Gelleri gab seine Lehrertätigkeit auf und sattelte zum Geschäftsführer um.
Raus aus der Schule, rein ins Wirtschaftsleben
Bereits im Jahr 2003, ein Jahr nach der initialen Idee, gründeten Schüler:innen, Eltern und Lehrer:innen einen Verein, den Chiemgauer e. V. Er versteht sich als ideeller Träger des «Chiemgauer», ist gemeinnützig und international bekannt. Sein Ziel ist es, regionale Wirtschaftskreisläufe zu fördern und kreativ zu gestalten. Im Jahr 2019, als Klimafragen nicht mehr wegzudiskutieren waren, initiiert der Chiemgauer e. V. ein weiteres, zukunftsträchtiges Projekt – den Klimabonus. Dieser belohnt Teilnehmer:innen in «Chiemgauer» für klimafreundliches Verhalten. Die Maßnahmen reichen von einem eigenen Balkonkraftwerk über Carsharing bis hin zum Bezug einer Gemüsekiste.
Mehr Info: www.chiemgauer.info und www.klimabonus.info
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