Ausgabe 07-08/23

Win-win durch Incoming Freiwillige

Christoph Herrmann
Incoming-Seminar bei den Freunden
Shalin in Kolumbien

Im April waren die 180 Betten im Bildungszentrum des Bundesamtes für Familie und zivilgesellschaftliche Aufgaben (BAFzA) in Karlsruhe ausschließlich mit Freiwilligen der Freunde der Erziehungskunst Rudolf Steiners belegt. Dort findet traditionell in jedem Frühjahr die Seminarwoche zur politischen Bildung des Bundesfreiwilligendienstes (BFD) statt. Der BFD ist das Nachfolgekonstrukt des Zivildienstes; die Bildungszentren waren vor 2011 die Seminarhäuser für den Zivildienst.

Gewinn für alle Seiten

Das Incoming von ausländischen Freiwilligen nach Deutschland ist entwicklungspolitisch von hoher Priorität. Denn es gibt jungen Menschen aus dem Globalen Süden die Möglichkeit, zeitlich befristet an dem Lern- und Orientierungsangebot der Zivilgesellschaft in Deutschland teilzunehmen. Die Incomer selbst, und nach ihrer Rückkehr auch ihre Heimatgesellschaften, profitieren von der Persönlichkeitsentwicklung, von den Erfahrungen in einer gemeinwohlorientierten Tätigkeit und von den – vor allem in den Seminaren aufbereiteten – Eindrücken eines Lebens in einem sozialen und freiheitlichen Rechtsstaat. Im Incoming findet regelmäßig eine Win-win-Situation statt: Die Jugendlichen, die ihren Freiwilligendienst in Deutschland leisten, erlernen eine neue Sprache, lernen eine neue Kultur kennen und eignen sich Fertigkeiten an, die nach ihrer Rückkehr in das Heimatland für den Beruf von Vorteil sind. So sammeln sie Erfahrungen, die sich bei der Unterstützung von entwicklungspolitischen Projekten positiv auswirken können. Umgekehrt bekommen die Mitarbeiter:innen in den Einsatzstellen sowie die deutschen Freiwilligendienstleistenden neue Sichtweisen, mehr Verständnis und fundierten Respekt für andere Kulturen und Individuen. Dadurch wird auch ein wesentlicher Beitrag für die Bekämpfung von Rassismus und Diskriminierung geleistet.

Ungleichgewicht ausgleichen

Im Incoming-Rahmen der verschiedenen Freiwilligendienst-Formate kommen jährlich insgesamt rund 1.000 Jugendliche nach Deutschland. Demgegenüber werden circa 8.000 Jugendliche im Jahr über die verschiedenen geregelten Auslandsfreiwilligendienste in alle Welt entsandt, darunter deutlich mehr als 3.000 Freiwillige über den vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) geförderten Internationalen Jugendfreiwilligendienst IJFD. Es besteht also ein Ungleichgewicht zwischen Incoming und Outgoing. Zudem ist auch politisch ein Incoming-Zuwachs gewünscht. Das Konzept bietet die Möglichkeit, im Rahmen des bisher noch unterrepräsentierten – da sehr aufwändig und teuren – FSJ-Incoming aus dem globalen Süden ein neues Modell zu entwickeln. Und zwar sowohl auf der Basis bisheriger als auch neuer Ansätze, auf der zukünftige und möglicherweise auch breiter aufgestellte Projekte und Programme aufbauen können. Zudem können auch weitere potenzielle Träger von Incoming-Projekten profitieren. Von der Wirkung dieses Vorhabens konnten wir uns selber durch persönliche Gespräche und Eindrücke überzeugen. Hier passiert etwas, das sich lohnt! Das stellt auch Dr. Christoph Steegmanns, Leiter der Unterabteilung Engagementpolitik des BMFSF in einer Broschüre zum Thema vom Arbeitskreis voneinander Lernen – solidarisch Handeln – Grenzen überwinden (AKLHÜ) fest.

Der AKLHÜ als Netzwerk und Fachstelle für internationale personelle Zusammenarbeit hat 2016 gemeinsam mit den Freunden, einer weiteren Trägerorganisation und der Förderung durch das BMFSFJ maßgeblich das Konzept Incoming aus dem Globalen Süden (INGLOS) entwickelt und etabliert.

Juana und der Busfahrer

«Busdriver made my day» lautete die Überschrift der englischen Textversion einer INGLOS-Freiwilligen, die im September 2015 ihren Dienst am Parzival Zentrum in Karlsruhe begann. Auch in der Rundbriefausgabe der Freunde im Frühjahr 2016 wurde folgende Übersetzung des Berichtes von Juana Botero aus Kolumbien abgedruckt: «Es war meine erste Woche in Deutschland und ich konnte nur ein paar Wörter aneinanderreihen, ohne dass mein Gehirn wie eingefroren war. Ich musste zur Arbeit und hatte auf einen Zettel geschrieben, welche Busse und Züge ich brauchte. Am ersten Tag hat alles gut funktioniert, die Busse und Bahnen waren pünktlich. Am dritten Tag bin ich in den Bus der Linie 110 eingestiegen, bis er plötzlich in eine andere Richtung gefahren ist. Ich habe den Busfahrer gefragt, ob der Bus zum Malscher Bahnhof fährt. Mit einem wenig freundlichen Gesicht machte er mir klar, dass ich im falschen Bus war. Ich bin dann ausgestiegen und habe auf den nächsten 110er gewartet. Ich stieg ein und leise und schüchtern fragte ich den Busfahrer ‹Malsch Bahnhof?› und mit einer kleinen Kopfbewegung bestätigte er ‹Ja›.

Am nächsten Morgen war ich unsicher und nervös. Ich habe in Gedanken wiederholt, wie ich nach dem richtigen Bus fragen konnte. Als der kam und die Tür aufmachte, sah ich denselben Busfahrer wie am Tag davor – der vom richtigen Bus – und fragte wieder ‹Malsch Bahnhof?› und er antwortete ‹Ja›. Und so lernte ich, dass derselbe Busfahrer jeden Tag diesen Bus fahren würde und jeden Morgen war ich glücklich, sein Gesicht zu sehen, weil ich dann wusste, dass ich mit dem richtigen Bus fahre. Jedes Mal strahlte ich beim Einsteigen und sagte freudig ‹Morgen!› zum Busfahrer. Der Mann kannte den Grund für meine Freude nicht und antwortete mir kein einziges Mal. Das war mir egal, weil ich wirklich glücklich war, ihn zu sehen. Jeden Morgen, für ungefähr zwei Wochen, stieg ich freudig in den Bus, schaute den Busfahrer an, lächelte und wünschte ihm freundlich ‹Morgen.› Eines Tages stieg ich ein, und bevor ich Zeit zu lächeln hatte, schaute er mich an, lächelte und sagte ‹Morgen!›. Das hat mich so glücklich gemacht. Da habe ich erkannt, dass meine Kultur in mir lebt, und ich sie mit mir trage, wohin ich gehe, und dass die Kleinigkeiten im Alltag zu einem wichtigen kulturellen Austausch beitragen.»

Die Aufgaben von Juana Botero im FSJ waren die Unterstützung einer Flüchtlingsklasse und außerschulische Aktivitäten mit Flüchtlingen sowie die Nachmittagsbetreuung für Schule, Hort und Kinderhaus. Nach ihrem Freiwilligendienst entschied sich Juana, in Deutschland zu bleiben. Sie absolvierte eine Ausbildung zur Jugend- und Heimerzieherin im Seminar am Michaelshof in Kirchheim und arbeitet heute als Erzieherin in einer der Gruppen am Kinderhaus des Parzival-Zentrums in Karlsruhe-Hagsfeld. Wir haben Juana im Frühjahr 2023 nochmals getroffen und von ihr erfahren, dass ihre Lebensperspektive darin besteht, ständig weiter zu lernen. Das ist ihrer Meinung nach familiär bedingt, denn ihre Mutter, eine Waldorflehrerin in Kolumbien, hat im Ruhestand als erstes beschlossen, ein FSJ in Deutschland zu machen. Von September 2018 bis Sommer 2019 hat sie deshalb das Freie Sonderpädagogische Bildungszentrum mit Förderschwerpunkt geistige Entwicklung in der Schule für Seelenpflege des Parzival-Zentrums in Karlsruhe unterstützt.

Shalins lärmendes Herz

So wie Juana gibt es glücklicherweise einige junge Menschen, die über ein FSJ im In- oder Ausland ihren Zugang zur Waldorfpädagogik oder zu sozialen Berufen suchen und finden. Shalin Alea aus Mannheim wusste beispielsweise schon lange bevor sie ihr waldorfpädagogisches Grundstudium beendete, dass sie ein Jahr an einer Waldorfschule in Lateinamerika verbringen wollte. Als angehende Sprachlehrerin wollte sie dies im spanischsprachigen Kontext tun, wollte in einer für sie neuen Sprache denken, fühlen und handeln lernen. Juana Botero kam aus Kolumbien nach Karlsruhe und Sahin Alea Ripa ging von Mannheim nach Kolumbien, in das Colegio Luis Horacio Gomez. Das Colegio ist die Waldorfschule von Cali und besteht seit den 70er-Jahren des letzten Jahrhunderts. Die Schule wird heute von etwa 500 Schüler:innen besucht. Shalin Aleas Aufgabe bestand darin, Kindern mit Lernschwierigkeiten zur Seite zu stehen und sie dahingehend zu unterstützen, dass sie dem Unterricht gut folgen können. Und weil es keine Zufälle im Leben gibt, ist das Colegio, in dem Shalin Alea ihren Freiwilligendienst geleistet hat, die Schule, in der Juana ihre Schulzeit verbracht hat und ihre Mutter als Lehrerin tätig war.

Über ihren Freiwilligendienst resümiert Shalin Alea: «Diese innere, vom Herzen kommende Schönheit war versteckt in spontanen, vergänglichen Momenten und befand sich oft in unmittelbarer Nähe. Seither schlägt mein Herz mit viel Lärm, angetrieben vom Tambor Palenquero und der Marimba, Salsa und Currulao; erfreut sich an tausenden von Farben, Lächeln, am Meeresrauschen und Regenwald und am Duft von Kaffee und frittierten Kochbananen.»

Soziale Pflichtzeit?

Zwei wunderschöne und positive Beispiele darüber, wie junge Menschen ihren Berufsweg über ein FSJ, einen BFD, einen Internationalen Jugendfreiwilligendienst, weltwärts oder über das Engagement im Europäischen Solidaritätskorps in der Waldorfpädagogik finden. Aber mit Blick auf den drohenden Lehrer:innenmangel, auch in der Waldorfwelt, sind sie sicher nicht ausreichend, um die Anforderungen der Zukunft zu erfüllen. Deswegen unterstützen wir die Initiative unseres Bundespräsidenten Franz Walter Steinmeier für eine soziale Pflichtzeit. Er wirbt in seiner Debatte für ein altersunabhängiges soziales Engagement mit flexibler Dauer. Unser Geschäftsführer Freiwilligendienste weltweit, Claudio Jax, beteiligt sich als Vorstandesmitglied des AKLHÜ aktiv an dieser Debatte. So hat er die Idee eingebracht, die aktuellen Freiwilligen-Dienstformate in der Gesellschaft als festen Bestandteil nach dem Schulabschluss zu etablieren – mit einem Rechtsanspruch auf Förderung eines Freiwilligenjahres im In- oder Ausland – und unseren Bundespräsidenten zu motivieren, jeder und jedem Schulabgänger:in eine persönliche Einladung für eben diesen Dienst zu überreichen.

Bis es soweit ist, appellieren wir an die Jugend – auch gerne über die Elternhäuser und Lehrkräfte – zu prüfen, ob eine soziale Tätigkeit vor dem Studium oder dem Beginn einer dualen Ausbildung Sinn macht. Nicht nur zum Thema soziale Pflichtzeit gibt es übrigens interessante Folgen in unserem Podcast Unter Freunden. Auch ein schönes Reel über den Freiwilligendienst von Shalin Alea ist auf dem Instagram-Kanal @freunde_waldorf zu finden; den Bericht von Juana gibt es im Rundbrief Frühjahr 2016 auch zum Download auf der Freunde-Homepage www.freunde-waldorf.de.

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