Ausgabe 10/23

Wir brauchen geschultes Denken!

Stefan Grosse

Die geforderte Gedankenschulung geschieht sicher auch indirekt durch Stricken und Musizieren, aber eben nur auch. Waldorfschulen haben sich in ihren Profilen über die Jahrzehnte spezialisiert. Es gibt inklusive Schulen, Schulen mit beruflichem Bildungszug, Schulen mit Klein- und Großklassen unter einem Dach. Mir wäre wichtig, dass es auch solche Waldorfschulen gibt, die ausdrücklich das akademische Lernen fördern.
Das könnte eine Oberstufenschule sein, die nach der Waldorf-Klassenlehrerzeit in Klasse neun beginnt und bis zum Abitur in Klasse 13 führt. Sie soll auf einen akademischen Bildungsgang im Anschluss hinführen. Die Schule hätte drei Profilstränge: einen naturwissenschaftlichen, einen geisteswissenschaftlichen und einen künstlerischen. Entsprechende Ressourcen vorausgesetzt, könnte man die Kunst aufteilen in einen musischen und einen bildenden Zug, und ferner könnte man auch an einen Informatik-Zug denken. Die heute übliche Fächervielfalt würde auf zum Beispiel sechs Kernfächer zusammengestrichen. Die Kernfächer würden intensiviert, wobei der verschulende 45-Minuten-Takt dadurch aufgehoben würde, dass Inhalte in offenen Projektzeiten in freien Lerngruppen erarbeitet würden. Lehrende träten stärker als bisher als Berater:innen auf, um die Schüler:innen in sokratischer Methode, also dialogisch und um klare Definitionen bemüht,  durch das Thema zu führen. Die Unterrichtsinhalte orientierten sich am Waldorflehrplan, setzten aber je Profil andere Schwerpunkte, wodurch thematische Gebiete erweitert werden könnten, sodass neue Inhalte hinzugedacht werden müssten. Die entwicklungspsychologische Idee, die zur Auswahl der Inhalte im Lehrplan geführt hat, bliebe die gleiche. Eine solche Schule würde den Leistungsgedanken kommunizieren. Sie würde auf Begabungen eingehen. Schüler:innen dürfen die Erfahrung machen, dass sie leistungsstark sind. Das kann befreiend wirken, stärkt das Selbstwertgefühl und führt zu Resilienz.
Die Idee dieser Schule ist nicht so neu und ungewöhnlich, wie es scheinen mag. Die Oslo by Steinerskole macht das schon seit vielen Jahren, damit hat das Modell den Praxistest also schon bestanden. Um so ein Experiment in Deutschland erfolgreich durchführen zu können, bräuchte es qualifizierte Pädagog:innen und ausreichende finanzielle Mittel. Eine Stiftung müsste sich für so ein Projekt begeistern können und langfristig unterstützen.

Kommentare

Reinald Eichholz, Velbert ,

Das unreflektierte akademische Denken führt in eine Sackgasse. Im heutigen Studierbetrieb fehlt die Zeit für einen kritischen Diskurs, was Mensch und Natur eigentlich sind, welchen Sinn das Forschen hat, und wie eine Wissenschaft erweitert werden müsste, um Mensch und Welt gerecht zu werden. Unter diesen Umständen tut die Waldorfschule gut daran, möglichst reiche Weltbegegnung in menschlicher Vielfalt zu ermöglichen und gerade im Jugendalter das Gefühl für ‚echtes‘ Leben zu stärken, damit Schüler:innen beim Verlassen der Schule einen so sicheren Stand haben, dass sie sich dem akademischen Diskurs aus ihrer Verbindung mit dem Leben widmen können. Dann sollen sie prüfen, ob ihre Begegnungen in der Schule reales Leben oder doch nur ‚Simulationen im Kopf‘ waren. Oder ob sie beim Malen, beim Schauspiel oder bei der Gestaltung der Schule ‚seeing colour‘ zu Recht Freude an der Farbigkeit gehabt haben.

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