Wir meinen es ernst

Erziehungskunst | Was verstehen Sie unter Rassismus?

Henning Kullak-Ublick | Gemeinsam ist allen Formen des Rassismus, dass sie von angeborenen Unterschieden zwischen verschiedenen Ethnien ausgehen.

Menschen werden in verschiedene »Rassen« eingeteilt, denen spezifische kollektive Eigenschaften zugeschrieben werden. Daraus wird die Überlegenheit der eigenen »Rasse« abgeleitet, in Europa und den USA vor allem als »white supremacy«, mit der die Unterdrückung von Menschen anderer Herkunft oder Hautfarbe legitimiert wurde und, wenn auch versteckter, oft noch wird. Neben dem offenen Rassismus gibt es subtilere und gesellschaftlich breit akzeptierte Formen der rassistischen Diskriminierung, wenn Menschen aus benachteiligten Minoritäten beispielsweise unterstellt wird, sie seien durch ihre Arbeitsmoral selbst schuld an ihrer individuellen oder sozialen Situation.

EK | Warum ist das Thema Rassismus zurzeit wieder virulent?

HKU | Seit einiger Zeit ist eine Zunahme rassistischer, auch gewalttätiger Angriffe auf Menschen anderer Hautfarbe zu beobachten. Ebenso nimmt der Antisemitismus wieder zu, der zwar noch nie ganz überwunden war, sich aber verstecken musste. Dass er neuerdings wieder offen in Erscheinung tritt, hat viele Gründe, die von der Verbreitung judenfeindlicher Verschwörungsnarrative über die Propaganda islamistischer Extremisten bis zur Gleichsetzung des jüdischen Lebens mit der Politik des Staates Israel reichen. In vielen europäischen Ländern gewinnen rechtsextreme und offen rassistische Parteien an Boden. Menschen mit Migrationsgeschichte fühlen sich häufiger bedroht als noch vor wenigen Jahren. Ich glaube, dass diese neuerliche Ausgrenzung des »Fremden« der Angst entspringt, dass die Menschen aus Ländern, auf deren Kosten wir seit Jahrhunderten leben, plötzlich vor unserer Haustüre stehen, weil das ganze System nicht mehr funktioniert. Ein konkreter Anlass war der Mord an dem Afroamerikaner George Floyd, der nicht nur in den USA, sondern auch in Europa dazu geführt hat, dass die Sensibilität für rassistische Diskriminierung auf allen Ebenen unseres gesellschaftlichen Lebens wächst. Das ist die Gegenbewegung.

EK | Welche Vorwürfe werden den Waldorfschulen oder Anthroposophen gemacht? 

HKU | Den Waldorfschulen wird gelegentlich vorgeworfen, sie hätten sich nicht klar genug von Rudolf Steiner distanziert, von dem einzelne rassistisch-diskriminierende Äußerungen überliefert sind. Außerdem wird auf die Zeit des Nationalsozialismus verwiesen, während der die Schulen zunächst versuchten, ihre Tore für die Kinder offen zu halten. Dabei wurden an einigen Schulen mehr, an anderen weniger Kompromisse in Kauf genommen, aber nach wenigen Jahren beschlossen sie entweder selbst ihre Schließung, weil sie aufgrund der anti-nationalsozialistischen Ausrichtung der Anthroposophie und Waldorfpädagogik zu weiteren Kompromissen nicht mehr bereit waren, oder sie wurden von den Nazis geschlossen, die diese Unvereinbarkeit sehr genau erkannten.

Der Anthroposophie wurde immer wieder unterstellt, sie sei immanent rassistisch, weil Steiner zu Beginn seiner anthroposophischen Vortragstätigkeit beispielsweise den Terminus der »Wurzelrassen« aus dem Sprachgebrauch der Theosophie Helena Petrovna Blavatskis verwendete. Steiner ersetzte diese Terminologie zwar schon bald durch »Kultur-Epochen«, weil es ihm gerade nicht um eine phänotypisch-körperliche Rassenlehre, sondern um die kulturelle Entwicklung der Menschheit ging, die alle »blutsmäßig« begründeten Zusammenhänge zugunsten der individuellen Freiheit überwinden müsse. Dennoch ist unbestreitbar, dass er mitunter Stereotype über andere Ethnien verwandte, die völlig inakzeptabel und durch nichts zu rechtfertigen sind. In seiner Gesamtheit ist Steiners Lebenswerk aber zutiefst humanistisch und das exakte Gegenteil eines systematischen Rassismus. Die einzigartige Individualität eines jeden Menschen als das konstituierende und verbindende Merkmal aller Menschen ist der Dreh- und Angelpunkt der Anthroposophie.

EK | Sind diese Vorwürfe die alten oder neue?

HKU | Die Vorwürfe sind alt. Neu ist zweierlei: Erstens eine verstärkte Sensibilität für kulturell adaptierte Formen rassistischer Diskriminierung, mit der auch die Waldorfschulen sich auseinandersetzen. In dem Oberuferer »Dreikönigsspiel« beispielsweise werden »die Juden« übel karikiert. Natürlich wird das heute nicht mehr so inszeniert, aber auch dieses Spiel gehört zu unserem kulturellen Erbe.

Dann gibt es eine wissenschaftliche Debatte, auch in den Feuilletons, in der immer wieder neu abgeklopft wird, was an den »alten« Vorwürfen dran ist. Das ist völlig legitim. Ärgerlich wird es, wenn einer beim anderen abschreibt und die schiere Anzahl der Kopien irgendwann dazu führt, dass eine Behauptung schleichend zur Tatsache wird. Das ist die zweite neue Entwicklung, die durch die ungefilterte virale Verbreitung von Meinungen durch das Internet verstärkt wird.

Leider müssen wir aber auch zur Kenntnis nehmen, dass es vereinzelt dem rechten Spektrum angehörende Menschen, beispielsweise aus der Szene der völkischen Siedler, gibt, die Steiner nationalistisch »deutsch« oder sogar rassistisch interpretieren. Das geht nur, weil sie sich genau jene Stellen herauspicken, die zu den Rassismus-Vorwürfen geführt haben, aber natürlich wirft das die Frage auf, wer Steiner denn jetzt besser verstanden hat: die Vertreter einer militant biologistischen Verengung ihres Menschenbildes oder diejenigen, die durch die Anthroposophie gerade die einzigartige Wirklichkeit jedes einzelnen Menschen als Basis einer freien, demokratischen und brüderlichen Gesellschaft ernst nehmen.

EK | Wer erhebt diese Vorwürfe und was ist deren ideologischer, ideeller, politischer Hintergrund? 

HKU | Es gibt einen wissenschaftlichen Diskurs, der von der Debatte lebt und dabei auch Thesen zur Diskussion stellt, die anschließend kontrovers behandelt werden. Das ist völlig normal.

Die Vorwürfe kommen eher aus dem linken Spektrum, weil dort eine besondere Sensibilität für Diskriminierungen vorhanden ist. Dann gibt es Kritiker aus dem institutionellen Umfeld der Kirchen, die gelegentlich ein angespanntes Verhältnis zur Anthroposophie haben und ihre Abneigung mitunter auch mit Klischees zu belegen versuchen. Das begann schon zu Steiners Lebzeiten. Besonders aggressiv kommen die Vorwürfe aber von einer anderen, in ihrem Dogmatismus fast schon wieder »religiös« agierenden agnostischen Szene, die seit einiger Zeit an Boden gewinnt und sich die alleinige Deutungshoheit darüber zuschreibt, was die Welt im Innersten nicht zusammenhält: jede Form der Spiritualität. Von den Protagonisten dieser Szene wird alles, was mit der Wirklichkeit der geistigen Welt rechnet, grundsätzlich abgelehnt und zur Wurzel fast aller Übel dieser Welt erklärt. Die Anthroposophie mit ihren vielen Wirkungsfeldern ist dafür eine einzige Provokation. Es gibt Spezialisten, die alles zusammentragen, was sie gegen sie verwenden können, ganz gleich, ob das Tatsachen, Gerüchte, aus dem Zusammenhang gerissene Zitate oder Phantasien sind. Da darf der Rassismus-Vorwurf natürlich nicht fehlen.

EK | Sind ihre Anliegen ernstzunehmen? 

HKU | Interessanterweise unterstellen die letztgenannten Kritiker ja immer, dass alle Anthroposophen Steiners Worte als die letzte Wahrheit des letzten Propheten wortwörtlich und unveränderbar für alle Ewigkeit nachplappern. Dass wir alle Zeitgenossen sind und durch die gleichen Katastrophen und Veränderungen der letzten hundert Jahre geprägt sind, dass man sich mit Steiners inzwischen historisch gewordenem Werk durchaus differenziert auseinandersetzen und von manchem, was es enthält, sogar distanzieren kann, ohne ihn selbst gleich komplett zu verteufeln, können sich manche Kritiker offenbar nicht vorstellen. Das sagt allerdings mehr über ihre Methoden als über den Gegenstand ihrer Kritik aus.

Aber natürlich, man muss das ernst nehmen, zum einen, weil Steiner eine riesige Bedeutung für die Anthroposophie hat und wir gar nicht umhinkönnen, als uns auch kritisch mit ihm auseinanderzusetzen, zum anderen, weil wir uns nicht einfach wegducken können. In unserer Gesellschaft gibt es leider rassistische Strömungen. Dagegen hilft nur  Wachsamkeit.

EK | Worauf zielen diese Vorwürfe ab? 

HKU | Wenn sie redlich gemeint sind, sind sie eine Aufforderung, unsere Ansprüche mit unseren Taten abzugleichen. Wenn sie unredlich gemeint oder ideologisch motiviert sind, dienen sie der Diskriminierung der Anthroposophie und ihrer Wirkungsfelder.

EK | Zielen sie gar auf ein Verbot der Waldorfschulen bzw. Erschwerung ihrer Existenz ab? 

HKU | Bei einigen besonders radikalen Gruppen ist das so, aber denen stehen nun mal die überwiegend positiven Erfahrungen von 90.000 Schülern allein in Deutschland, von ihren Eltern, von den Ehemaligen und nicht zuletzt von denjenigen gegenüber, die nach der Schule mit ihnen zusammenarbeiten. Weltweit gibt es 1.200 Waldorfschulen, die alle aus lokalen Initiativen entstanden sind. Dass die Waldorfpädagogik das weltweit größte Netz an nichtstaatlichen und nicht kirchlich gebundenen Schulen ohne jedwede zentrale Steuerung aufgebaut hat, liegt ja gerade an ihrer Vielseitigkeit und Adaptionsfähigkeit an andere kulturelle, religiöse, sozioökonomische oder politische Rahmenbedingungen.

EK | Sind auch andere anthroposophische Einrichtungen von diesen Angriffen betroffen?

HKU | Ja, aber ich vermute, dass die Schulen schon besonders im Fokus stehen, weil es da um die Kinder geht. Die anthroposophische Medizin wird von manchen Kritikern in eine sektiererisch »impfgegnerische« Ecke gedrängt, obwohl sie sich dezidiert als Erweiterung der Schulmedizin und nicht als deren unvereinbare Alternative versteht. Und die Demeter-Bauern trifft es, weil Demeter nun mal die beliebteste Marke Deutschlands ist. Die Frage nach dem Wesen des Menschen in seinem Verhältnis zur Natur und zur Technik ist eine der, wenn nicht die zentrale Frage unserer Zeit und da wird auch mit harten Bandagen gekämpft.

EK | Wie sieht die Wirklichkeit an den Schulen aus – kann eine Anfälligkeit für rassistisches Gedankengut festgestellt werden?

HKU | Waldorfschulen stehen in der öffentlichen Meinung nicht ohne Grund für eine liberale, den Kindern zugewandte und das Individuum achtende Schulform. Dennoch hat es in der Vergangenheit vereinzelt Lehrer gegeben, die dem rechtsextremen Spektrum angehörten. In allen uns bekannt gewordenen Fällen haben sich die Schulen wegen der Unvereinbarkeit von deren Überzeugungen mit den Idealen der Waldorfpädagogik von ihnen getrennt. Eine solche Denkweise geht aber nicht von der Waldorfschule aus, sondern ist ein Zeitphänomen und daher kann es auch vorkommen, dass jemand versucht, das in die Waldorfschule hineinzutragen. Das klappt aber nicht, obwohl es vereinzelt Berührungsflächen mit Dingen gibt, die beispielsweise auch völkische Siedler gutheißen, wie die Bio-Landwirtschaft, freie Schulen, die Jahresfeste und manches andere. Deshalb haben wir schon 2015, als noch niemand davon sprach, eine Broschüre zu den »Reichsbürgern« herausgegeben, um solchen Vereinnahmungsversuchen durch Aufklärung vorzubeugen.

EK | 2007 wurde vom Bund der Freien Waldorfschulen die »Stuttgarter Erklärung« verabschiedet, die sich klar von rassistischen Tendenzen distanziert. Warum hat es jetzt eine neue Stuttgarter Erklärung gegeben?

HKU | In der damaligen Fassung haben wir uns von allen Formen der Diskriminierung distanziert. In der jetzt verabschiedeten Fassung haben wir das zugespitzt und ausdrücklich den Rassismus und die rassistische Diskriminierung beim Namen genannt. Wir glauben, dass die Gegenwart eine unmissverständliche Positionierung unbedingt notwendig macht. Außerdem merken dann vielleicht auch einige derjenigen, die es bisher noch nicht wahrhaben wollten, dass wir es tatsächlich ernst meinen mit dieser Erklärung.

Literatur:

U. Werner: Waldorfschulen im nationalsozialistischen Deutschland, Stuttgart 2018 | U. Werner: Rudolf Steiner zu Individuum und Rasse, Dornach 2011