«Der da ist knalle rot. Den will ich», sagt Mika und schon klettert er noch eine Stufe höher auf der alten Holzleiter, sodass er mit ausgestrecktem Arm in den obersten Zipfel der Apfelbaumkrone langen kann. Mitschülerin Elif kümmert sich derweil um den Stall ihres Lieblingslämmchens und mistet aus. Es ist Dienstagmorgen und wie jeden Tag haben die beiden ihren Schultag auf dem Hof Dickten begonnen. Der liegt rund 20 Gehminuten entfernt von der Windrather Talschule, die die beiden Drittklässler:innen besuchen. Und dort ticken die Uhren etwas anders. «In den Sommermonaten startet die Unterstufe ihre Tage immer auf dem Bauernhof, mit dem wir zusammenarbeiten. Zuerst singen alle gemeinsam, dann wird auf dem Hof gearbeitet, bis im Klassenzimmer das Frühstück bereitsteht», erzählt Cécile Hertel.
Das Windrather Tal in Velbert fügt sich ein in die Hügellandschaft zwischen dem südlichen Ruhrgebiet und dem Bergischen Land und beheimatet ein halbes Dutzend Biohöfe. Die gleichnamige Schule wurde dort 1995 gegründet – als eine der ersten inklusiven Waldorfschulen in Deutschland. Von Anfang an mit dabei ist Bärbel Blaeser, die im vergangenen Schuljahr noch mal eine erste Klasse übernommen hat. Die Zeitgestalt im Schulalltag neu zu greifen, war ihr von Beginn an ein besonderes Anliegen. Denn Blaeser ist überzeugt: «Schule muss sich ändern, auch Waldorfschule!» Es sei der Inhalt, der die Tage gliedern müsse, nicht die Struktur. Seit ihrer Gründung wird die Windrather Talschule von Schüler:innen mit und ohne sonderpädagogischem Unterstützungsbedarf besucht. Für Hertel und Blaeser sind Kinder mit Inklusionsbedarf kleine Seismographen, die anzeigen und darauf aufmerksam machen, wenn für alle etwas aus dem Gleichgewicht gerät oder etwas nicht stimmig ist – der Ablauf eines Schultags etwa. «Kinder leben einfach anders in der Zeit und mit der Zeit als Erwachsene. Dem wollen wir Rechnung tragen», sagt Blaeser.
Diese Absicht schlägt sich verschiedentlich im Alltag der Windrather Talschule nieder. So gibt es beispielsweise keine Schulklingel, die den Anfang oder das Ende einer Unterrichtsstunde markiert. Stattdessen verlaufen die Übergänge von einer Einheit in die andere bis zur sechsten Klasse fließend. Das ist möglich, weil alle Klassen in Teams unterrichtet und begleitet werden. In den unteren Klassenstufen arbeiten die Klassenlehrkräfte häufig mit Integrationshelfer:innen zusammen. «Durch dieses Modell können Fachstunden atmen, also durch eine Epoche hinweg von kürzer zu länger anwachsen», sagt Hertel.
Auch auf die Jahreszeiten und ihre unterschiedlichen Anforderungen an den Biorhythmus möchte das Kollegium Rücksicht nehmen. Deshalb starten die Schultage in den Frühlings- und Sommermonaten auf dem benachbarten Bauernhof, während von Herbst bis Ostern ein handwerklicher Zeitstreifen in der Schule stattfindet. Daran nehmen die Schüler:innen mal im Klassenverband und mal in klassenübergreifenden Gruppen teil. Ausschlaggebend ist das Thema.
Die Siebt- bis Zehntklässler:innen beginnen jeden Tag mit einer künstlerischen Einheit – bis zum Frühstück. Erst danach startet auch für sie die jeweilige Epoche. «Die Mahlzeiten sind bei uns etwas ganz Wichtiges. Sie sind es, die den Tag gliedern, die den Bogen spannen von einer Einheit zur nächsten», berichtet Hertel.
Trotz aller Besonderheiten: Völlig aufgelöst ist die Zeitgestalt an der Windrather Talschule nicht. Das ist Blaeser und Hertel, den beiden langjährigen Mitgliedern der Schulgemeinschaft, wichtig zu betonen. Vielmehr sei es ein altbekanntes und offenes Geheimnis, das in ihrer Schule lebt und den Unterschied macht. «Die berühmte Viertelstunde Spielraum – Sie ahnen gar nicht, was die macht», sagt Blaeser und fügt hinzu, dass Kinder und Jugendliche schließlich von Natur aus selbst Routine und Gleichmaß mögen würden. «Das wohnt ihnen inne und deshalb sind sie in ihrer Zeitgestaltung von sich aus sehr verlässlich», ergänzt Hertel.
Die Tagesgestaltung flexibler zu handhaben, auf Dynamiken und Bedürfnisse einzugehen, fordert von den Kolleg:innen eine besondere Art des Wahrnehmens und der Zusammenarbeit. Die Fachlehrer:innen stoßen für ihre Einheiten zu den Klassenlehrer:innen dazu, die immer da sind. Sie nehmen die Stimmung in der Klasse auf, versuchen sie zu deuten, fragen sich, ob der Großteil gerade noch so sehr im Flow ist, dass ein Ende jetzt zu abrupt käme, oder ob sich bereits Müdigkeit breit gemacht hat, ein Themenwechsel jetzt neuen Schwung bringen könnte oder erst nach einer kurzen Verschnaufpause oder einer Aktivierungsphase angesagt wäre. Um das immer wieder aufs Neue zu analysieren, steigen sie ins Klassengeschehen ein und machen bei allem mit, was gerade lebt – sei es Handarbeit oder Eurythmie. Sich lange auf eine Stunde vorzubereiten, sei da eher wenig sinnvoll, meinen Blaeser und Hertel. Vielmehr bräuchte es immer wieder kurze Momente des Abstimmens zwischen den beteiligten Pädagog:innen. «Wir führen unheimlich viele Tür- und Angelgespräche, um mitzuteilen und mitzubekommen, was unter den Kindern gerade lebt, und zu beraten, was sie im Augenblick brauchen», erzählt Hertel. Manchmal sei das schlicht die Gelassenheit, Situationen so zu belassen, wie sie sind. Hertel denkt an einen Jungen, der beinahe einen ganzen Vormittag auf dem Regal eines Klassenzimmers verbracht hat, als sie das sagt. «Er brauchte vielleicht einfach Raum für sich, etwas Abgeschiedenheit, Ruhe, einen besseren Überblick», mutmaßt sie. Und schließlich sei er auch ganz von allein wieder runtergekommen – als er zur Toilette musste nämlich.
Blaeser und Hertel sagen, sie hätten den Inklusionsgedanken bei der Gründung genutzt, um Schule als Ganzes in Frage zu stellen. Herausgekommen sind drei Säulen, die die Schule im Windrather Tal seither prägen: Spielen, Lernen und Arbeiten. Vorbilder, an denen sie sich orientieren konnten, gab es Anfang der Neunziger Jahre kaum. Eines der wenigen war die Solvikschule im schwedischen Järna, die der Pädagoge und Komponisten Pär Albohm gegründet hat und wo die sogenannte intuitive Pädagogik gelebt wird. Dort sind die Gründer:innen hingereist, um sich für ihre eigene Schule inspirieren zu lassen. Stundenpläne halten sie eher für ein notwendiges Übel, um die Berufstätigkeit von Erwachsenen zu verwalten. Dem Bedürfnis der Kinder abgelauscht seien sie nicht. Die Kolleg:innen, die an der Windrather Talschule arbeiten, seien laut Blaeser nicht trotz, sondern wegen der neu gegriffenen Zeitgestalt da – auch wenn sie ihnen hier und da Manches abverlangt. Das Kollegium sei im Großen und Ganzen konstant, die Fluktuation geringer als an anderen Schulen.
Pär Albohm hat in einem Interview einmal gesagt: «Bei gesunden Prozessen sind Ergebnisse immer eine Art ‹positiver Abfall›. Kinder sind hier und jetzt. Das sollten die Erwachsenen von ihnen lernen.» Der sogenannte positive Abfall an der Windrather Talschule sind nicht zuletzt die guten Noten, die die Schüler:innen Jahr für Jahr erreichen. So gut wie nie verlassen Schüler:innen die Schule ohne Abschluss, häufig haben sie dagegen ein Abitur in der Tasche. «Durch die Art, wie wir Schule gestalten, sind die Kinder und Jugendlichen eigentlich erst frei fürs Lernen. Lernen muss langfristiger gedacht werden. Ich glaube, entscheidend ist nicht, dass alle Schüler:innen immer alles aufnehmen, was ihnen begegnet, sondern dass sie immer mal wieder einen Zugang finden und sich wirklich verbinden können. Dazwischen kann es Pausen geben. In der Pubertät zum Beispiel. Manche werden da vorübergehend zu kleinen Satelliten und sind kaum erreichbar, aber das kommt wieder», teilt Hertel ihre Überzeugung.
Ein Moment, der die beiden Frauen in ihrem Tun bestätigt, würde sich beinahe jedes Jahr beim Sommerfest einstellen. Am letzten Tag vor Ferienbeginn kommt die ganze Schulgemeinschaft zum Abschied traditionell im Speisesaal zusammen. Dann sei es dort so voll, dass kaum mehr ein Blatt zwischen die einzelnen Menschen passen würde. «Gerade für Kinder mit Inklusionsbedarf, aber auch für alle anderen eigentlich eine Zumutung, die nach Tumult und Chaos schreit», findet Blaeser. Aber nichts dergleichen geschieht. Stattdessen stellt sich Jahr für Jahr eine «selige Stille» ein, eine «zufriedene Ruhe», berichten die beiden. «Die Kinder und Jugendlichen kommen und wollen mit uns Schule machen», halten Blaeser und Hertel fest.
Ausgabe 10/24
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