Die Anfänge des Jugendseminars, das 1964 eröffnet wurde, reichen aber noch viel weiter zurück. Das weiß Marco Bindelli, der die Institution seit 22 Jahren leitet. «Im Grunde müssen wir da auf die Zeit nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges schauen. Der Krieg hatte besonders junge Menschen vollkommen entwurzelt und sie quasi sinnentleert und ohne jede Idee für die Zukunft zurückgelassen», berichtet er aus Überlieferungen. Das Charakteristische sei damals schon gewesen, dass sich aus dieser Situation heraus nicht die ältere Generation die Frage gestellt hätte, wie man dem begegnen könne und etwa ein Konzept entwickelt hätte. Vielmehr sei es so gewesen, dass die Jüngeren sich aktiv mit individuellen Anliegen an die Älteren gewandt hätten, weil sie ahnten, dort Orientierung zu finden. Dieser Duktus lebt am Jugendseminar noch heute. Das ist Seminarleiter Bindelli wichtig. «Wir verstehen uns als Experimentierraum auf Grundlage der Anthroposophie, in dem junge Menschen sich selbst im Verhältnis zur Welt ausprobieren können. Wir überlegen uns nicht nur, was wir für junge Menschen tun möchten, sondern wir gehen auch auf das ein, was sie sich von uns wünschen und was sie brauchen», erklärt Bindelli.
Das Leben im Jugendseminar folgt einem rhythmisierten Wochenplan, der bunt zusammengestellt ist. Auf das gemeinsame Frühstück folgt jeden Tag ein wöchentlich wechselnder Morgenkurs, der sich Themen widmet, die überschrieben sind mit: Die Auseinandersetzung mit dem Bösen, Gentechnik und Lebensforschung, Empathie und Dialog – sozial-kreative Übungstage oder auch mit Anleitung für ein lebensdienliches Wirtschaften. «Die Morgenkursthemen haben durch die drei Trimester hindurch verschiedene Schwerpunkte. Im Herbsttrimester ist es Mensch und Kultur, im Winter- beziehungsweise Frühjahrstrimester ist es der Mensch in der Selbsterkenntnis und im Sommertrimester Mensch und Natur», erläutert Bindelli die Auswahl der Themen. Nach dem Morgenkurs geht es mit zwei aufeinanderfolgenden Hauptkurseinheiten weiter, die in der einen Woche aus Bothmergymnastik und Sprache und in der anderen aus Eurythmie und der Arbeit an dem Buch Theosophie von Rudolf Steiner bestehen. Wer sich noch weiter in die Grundlagen der Anthroposophie vertiefen will, kann nachmittags an der Erarbeitung der Philosophie der Freiheit teilnehmen. In den Pausen zieht es die jungen Leute oft in den weitläufigen am Hang gelegenen Garten – mit Kaffee und Gespräch. Die Pflege des Gartens ist ebenso fest im Wochenplan verankert wie das Putzen der großen gelben Villa, in der das Jugendseminar zu Hause ist. Das Singen im Chor, Eurythmie, Bothmergymnastik sowie Sprech- und Schauspielkunst sollen das Künstlerische in den jungen Menschen nähren. Abends kommen die Seminarist:innen zum Beispiel zur sogenannten Geburtstagserzählung zusammen. Die erzählende Person hält Rückblick auf das bisherige Leben und teilt mit der Gruppe bedeutsame Stationen der eigenen Biografie. Und neben all dem bleibt auch noch Zeit für individuelle Projekte – allein oder im Team. Dafür sieht der Wochenplan am Mittwochvormittag, am sogenannten Aktionstag, eine Eigeninitiativzeit vor. «Was wir hier anbieten, ist ein Studium Generale, das wir für jede Gruppe bestmöglich an ihre Bedürfnisse anpassen. Wir wollen, dass die jungen Menschen ihre eigene Bildung hier zu ihrem ganz individuellen Projekt machen können», fasst Seminarleiter Bindelli das Anliegen der Einrichtung zusammen.
Eine, die genau das vorhat, ist Olivia. Sie ist aus Brasilien ans Jugendseminar gekommen und inzwischen seit einem guten halben Jahr da. Zur Vorbereitung hat sie ein Freiwilliges Soziales Jahr in Deutschland absolviert – vor allem, um die Sprache zu lernen, denn die Unterrichtssprache am Jugendseminar ist Deutsch. Olivia möchte die Zeit am Seminar dafür nutzen, um «im Körper anzukommen». «Ich weiß, dass ich starke intellektuelle Kräfte habe und viel im Kopf lebe. Das ist nicht schlecht, aber es ist sehr einseitig. Ich möchte einen Ausgleich schaffen. Deshalb praktiziere ich viel Bothmergymnastik zusätzlich zu den Stunden, die wir eh schon haben», sagt die 21-Jährige.
Die Zeit von Hannah am Jugendseminar ist eigentlich schon zu Ende gegangen. Drei Trimester, ein ganzes Jahr, hat sie im Jugendseminar gelebt und konnte sich danach noch nicht wieder loseisen. «So geht es vielen», weiß Bindelli, «nicht wenige bleiben deutlich länger». Für Hannah ist das Jugendseminar ein «Schicksalsort». «Ich habe hier genau die Menschen getroffen, an denen ich mich entwickeln und wachsen konnte», sagt die junge Frau aus Südtirol. Das seien vor allem solche Menschen gewesen, für die sie zumindest zunächst eine Antipathie empfunden hätte. Denn dadurch fühlte sie sich dazu aufgerufen, zu lernen und den Menschen hinter dem kennenzulernen, was ihr antipathisch ist. «Wieso ist jemand, wie er ist? Wieso handelt er so, wie er handelt? Das findet man hier mit der Zeit heraus, wenn man sich bemüht. Denn wir teilen hier intime und ganz ich-hafte, unverstellte Momente. Wir kennen zum Beispiel alle unsere zerknautschten Gesichter, wenn wir morgens gerade erst mit zerzausten Haaren aus dem Bett aufgestanden sind. Das macht was mit einem», berichtet Hannah, die in ihrer Zeit am Seminar auch ein paar ganz persönliche Themen bearbeitet hat und die Zeit zu kurz fand. «Ein wesentliches Erlebnis fast aller Seminarist:innen ist das Schälen der inneren Zwiebel, bis sie bei ihrem Kern angelangt sind, unabhängig von Familie, Erbstrom, Tradition, Schule, Land und anderen Einflüssen. Sie gehen im wahrsten Sinne des Wortes zu Grunde. Darauf gründen sie ihre neu entdeckte Individualität. Sie versuchen Nöte zu wenden und ergreifen zur Hälfte pädagogische Berufe», weiß Bindelli.
Weil Hannah nicht allein mit dem Bedürfnis nach einer Verlängerung ist, hat das Jugendseminar unlängst offiziell ein zweites Studienjahr eingeführt. Es ermöglicht den jungen Leuten, in einem vierten, fünften und wenn gewünscht auch sechsten Trimester eine individuelle Brücke für den nächsten Ausbildungsschritt in der umgebenden Welt zu bauen. Um die Organisation und das Konzept kümmert sich Lukas. Vor nicht allzu langer Zeit war er selbst noch Seminarist, jetzt arbeitet er im Kollegium mit. «Wir haben über viele Jahre die Erfahrung gemacht, dass die jungen Menschen hier ein viertes, fünftes oder auch sechstes Trimester dranhängen, weil die Prozesse, die angestoßen wurden, noch nicht abgeschlossen waren. Diese vielen individuellen Verlängerungen haben mit dem zweiten Jahr einen offiziellen Rahmen bekommen», erklärt Lukas. Sein Wunsch für die Seminarist:innen des zweiten Jahres ist ein eigenes Haus, in dem sie selbstständiger und noch freier leben und lernen können. Denn seit je her beobachten die Verantwortlichen am Jugendseminar, dass es den jungen Leuten nicht leichtfällt, das, was sie sich am Seminar erarbeitet haben, mitzunehmen ins «normale Leben». «Dafür könnte ein zweiter Standort, der sich an der Selbstverwaltung orientiert, ein gutes Übungsfeld sein», findet Lukas. Die Suche nach einer geeigneten Immobilie läuft. «Das scheint vielleicht ein bisschen utopisch in Stuttgart, aber ich glaub‘ dran», sagt Lukas überzeugend. Und Seminarleiter Bindelli nickt.
Ausgabe 07-08/24
Kommentare
Es sind noch keine Kommentare vorhanden.
Kommentar hinzufügen
Vielen Dank für Ihren Kommentar. Dieser wird nach Prüfung durch die Administrator:innen freigeschaltet.