In Bewegung

Mein Sohn, Corona, die Medien und ich

Elke Dillmann

Da hängt er, im Klettergurt an der Fassade unseres Hauses. Das Seil hat er am Hängemattenhaken in seinem Zimmer befestigt, hat sich beherzt aus dem Fenster geschwungen und klettert an der Hauswand hoch und runter. Ich lache, aber ein bisschen Bitterkeit ist auch dabei – das Ganze erinnert mich an die Flucht aus Alcatraz. Im März 2020, an seinem 13. Geburtstag, sind wir als Familie zum ersten Mal in Quarantäne gegangen, eine Woche früher hatten wir unsere Tochter in Tirol beim Skirennen angefeuert, weit weg von Ischgl, die Quarantäne erwischt uns trotzdem.

In den Monaten zuvor hatte mein Sohn viel Zeit am alten Viehhof verbracht, einem Münchner »Urban Jungle«, hat zusammen mit Freunden Graffitis gesprüht, war in der »roten Stadt« im Olympiapark Parkour laufen, auf Fahrrad-Pumptracks in Sendling, im Skaterpark, ist im letzten Sommer von Isarbrücken gesprungen – hat gemeinsam mit seinen Freunden München entdeckt und Abenteuer erlebt.

Weil er Waldorfschüler ist und seine Mutter Medienpädagogin, hat er das alles ganz ohne Smartphone geschafft und ist immer heil heimgekommen, meistens sogar zur verabredeten Zeit.

Der deutsche Erziehungswissenschaftler Klaus Hurrelmann1 hat aus dem Ansatz des US-Amerikaners Robert Havinghurst den Begriff der »Entwicklungsaufgaben« übernommen – Aufgaben, die wir uns selbst und die Gesellschaft an uns stellen, die wir bewältigen müssen, während wir verschiedene Lebensphasen durchlaufen. Die Pubertät bezeichnet Hurrelmann als »einen tiefgreifenden (…) Einschnitt in der Lebensgestaltung und Persönlichkeitsentwicklung« und betont die Bedeutung des Freizeitbereichs, wo »relativ unbeobachtet von Erwachsenen neue Rollen erprobt und neue Erfahrungen« gemacht werden. Der Medienpädagoge Edwin Hübner bezeichnet es als die zentrale Entwicklungsaufgabe Jugendlicher »sich als Individuum zu finden und selbstständig in der umgebenden Welt zu ›verwurzeln‹ «. Drei unbewusste Leitfragen jugendlicher Seelen gelte es zu beantworten: Wer bin ich? Wie finde ich eine Beziehung zu meiner Umwelt? Was ist das Ziel meines Lebens?2

Und nun das. Mein Sohn ist eingesperrt im Reihenmittelhaus am Stadtrand, ohne Kontakt zu Freunden und ganz ohne Erlebnisse und Abenteuer. Zum Aufstehen gibt es eigentlich keinen Grund, der tägliche Stapel liebevoll zusammengestellter Arbeitsblätter von der Schule motiviert auch nicht wirklich. Eine gute und richtige und wichtige Entwicklungsaufgabe der Pubertät, raus aus der Kernfamilie, rein in die Peer-Group der Gleichaltrigen, rein ins eigene Leben ist von heute auf morgen abgeschnitten. Und meine guten Ideen sind auch nicht wirklich hilfreich. Brettspiele? Mama!!! Radtour mit den Eltern? Ach du, weißt du … – Mein Sohn braucht Freiraum, muss sich ausprobieren, um sich zu finden, wie soll das unter Corona-Bedingungen gehen?

Ich springe ganz weit über meinen Schatten, plündere das Konto und kaufe für meinen 13-jährigen Sohn einen Rechner. Noch vor ein paar Wochen wäre das undenkbar gewesen, er durfte schon ab und zu mal an meinen Rechner, aber der ist ja jetzt im Home-Office-Dauerbetrieb. Die Sicherheitseinstellungen des W-Lan-Routers werden nachjustiert, die des Rechners auch. Wir führen Gespräche über das Internet, über Menschen, denen man dort begegnen kann, über Seiten, auf die man kommen kann, über Links, die man nicht klicken sollte, Informationen, die man nicht preisgeben sollte und vieles mehr. Mein Sohn hat jetzt eine Stunde Bildschirmzeit pro Tag, im abgesicherten Modus, aber doch zur freien Verfügung. Ich bin gespannt, was er mit diesem Vertrauensbeweis, diesem Freiraum macht.

Er nutzt sie überwiegend kreativ, seine Stunde, bastelt Beats und Sounds, experimentiert mit verschiedenen Musikstilen. Sowas hört sonst niemand in unserer Familie, das ist seine ganz eigene Musik. Er schneidet die Videos, die er mit Freunden beim Parkour laufen und Biken gedreht hat. Er schaut sich Mountainbike-, Parkour-, Graffiti- und DJ-Stars bei youtube an – ja, auch Schmarrn, das, was seine Freunde, Menschen seines Alters witzig finden. Der Rechner wird für ihn zum Fenster zur Welt, zu seiner Welt, die im Moment so unerreichbar weit weg von uns und unserem Reihenmittelhaus ist.

Dass Jugendliche Medien zur Identitätsbildung nutzen, ist intensiv erforscht. In Pandemie- Zeiten scheint ihnen eine noch größere Rolle für die Persönlichkeitsentwicklung Heranwachsender zuzukommen, wenn so vieles andere fehlt. »Medienaneignung« hat der Leipziger Medienpädagoge Bernd Schorb das genannt, wenn Jugendliche sich das aus den Medien holen, was sie in ihrer individuellen Situation für ihre Entwicklung brauchen und gleichzeitig aber auch Medien gestalten, »Medienhandeln« ist sein Begriff dafür, und das sei etwas sehr Aktives.3 Dass dabei auch viel schief gehen kann, zeigen aktuelle Studien zu Mediensucht4 und Cybermobbing.5

Deshalb ist es mir als Mutter und Medienpädagogin wichtig, nah dran zu bleiben an der Erfahrungswelt meines Sohnes. Immer wieder zeigt er mir, was er tut, schickt mir seine Musik, zeigt mir, welche Youtuber er gut findet – so lerne ich Neues und erfahre viel von ihm; wir diskutieren über Geschmack und Werte – so wächst eine neue, altersgemäße, der neuen Lebensphase angemessene Beziehung zwischen uns. Abends spielt er ab und zu gemeinsam mit Schwester und Freunden online sowas ähnliches wie »Montagsmaler«, dafür gibt’s extra Bildschirmzeit. Ich lausche ein bisschen und freue mich am Lachen meiner Kinder in Pandemiezeiten.

Inzwischen ist mir mein Sohn über den Kopf gewachsen, seine Stimme hat sich zu einem tiefen Bass entwickelt. Wir waren noch ein paar Mal in Quarantäne. Er hatte einige Monate Online-Unterricht und verbrachte deshalb weit mehr als die anfängliche eine Stunde am Tag vor dem Bildschirm. Das weiß ich deshalb so genau, weil er immer noch alles, was über die Stunde hinausgeht, einzeln bei mir anfordern musste. Jeden Tag erlaubte ich MS Teams, den Browser, die Suchmaschine … Mittags, nach der Schule, lese ich »Bildschirmzeitanforderung für Minecraft«. Na gut, das ist quasi der virtuelle Pausenhof, denke ich und klicke auf »1 Stunde erlauben«. Manchmal antworte ich ihm auch mit dem Emoji »Sonne«, dann weiß er Bescheid, dass er heute lieber rausgehen soll. Und dann ploppen auf meinem Computer auf einmal Anforderungen für Anwendungen auf, die ich nicht zuordnen kann – »mein Freund und ich programmieren da was Neues«, erklärt er mir.

Natürlich erschrecken die Studienergebnisse, die stark gestiegene Mediennutzungszeiten Jugendlicher in der Corona-Zeit zeigen. Jedes Jahr werden für die JIM-Studie 12- bis 19-Jährige nach ihren Mediengewohnheiten befragt. Einige der Ergebnisse der Erhebung von 2020, die die pandemiebedingten Veränderungen abbildet, werden im Vergleich zu 2021 bestätigt: »Der persönliche Besitz eines Computers oder Laptops stieg von 65 auf 72 Prozent, der eines eigenen Tablets von 25 auf 38 Prozent. Die spezielle Situation des Jahres 2020 resultierte auch in deutlich höheren Mediennutzungszeiten. Die tägliche Internetnutzungsdauer ist nach Einschätzung der Jugendlichen von 205 Minuten im Jahr 2019 auf 258 Minuten in 2020 deutlich gestiegen.«6

Und doch lohnt eine genauere Betrachtung dieser Zahlen. Vieles davon mag dem Online-Unterricht geschuldet sein. Ein weiterer Aspekt sind die fehlenden Offline-Möglichkeiten, die jugendlichen Entwicklungsaufgaben abzuarbeiten. Der eigene Computer hat meinem Sohn in diesem Corona-Jahr einen Teil seiner Pubertät gerettet, sicher ganz anders als seine Streifzüge durch abgelegene Ecken Münchens. Aber er hat ihm zumindest ein bisschen die Möglichkeit gegeben, seine Identität zu entwickeln, kreativ zu sein, mit Gleichaltrigen in Kontakt zu bleiben. Mag es am gesunden Fundament der ersten beiden Jahrsiebte liegen – dem Waldkindergarten und der Waldorfschule –, dass er dieses Angebot vor allem kreativ nutzt? Und an den seit langem eingeübten Regeln, dass es klar definierte Medienzeiten gibt, die dann auch wieder vorbei sind?

Sicher weiß ich nicht alles, was er in den letzten eineinhalb Jahren mit dem Computer erlebt hat. Ich weiß auch nicht alles, was er auf seinen Streifzügen durch die Stadt erlebt hat. Ganz sicher hat er irgendwie irgendwo irgendwann Mist gebaut, auch das gehört zum Teenager-Leben. Seit mein Sohn auf der Welt ist, lote ich die Balance zwischen Haltgeben und Loslassen aus. So vertrauensvoll wie ich ihn ohne Smartphone in die Stadt habe ziehen lassen, lasse ich ihn jetzt in die digitale Welt gehen, Schritt für Schritt, begleitet und doch selbstständig. Für seine Achtklassarbeit hat er seine Leidenschaft für die Fotografie entdeckt, fast jeden Tag ist er während des Lockdowns im Frühjahr 2021 mit der Kamera losgezogen, war wieder auf Streifzügen durch die Stadt, diesmal zu interessanten Foto-Spots, faszinierenden Locations, spektakulären Lichtstimmungen. Er hat trainiert, ganz genau hinzuschauen und Schönheit wahrzunehmen. Die Sonntags-Bildschirmzeit ging einige Wochen lang für Videokonferenzen mit seinem Fachmentor drauf, der ihm Tipps für die digitale Bildbearbeitung gab. So fließt das intensive Erleben und Wahrnehmen der realen Welt zusammen mit dem eigenen kreativen Medienhandeln.

Zur Autorin: Elke Dillmann ist Mitarbeiterin am von-Tessin-Lehrstuhl für Medienpädagogik an der Freien Hochschule Stuttgart.

Literatur:

1. K. Hurrelmann, G. Quenzel. Lebensphase Jugend: eine Einführung in die sozialwissenschaftliche Jugendforschung. Weinheim, Basel 2016.

2. E. Hübner. Individualität und Bildungskunst: Menschwerdung in technischen Räumen. Heidelberg 2010.

3. A. Hartung-Griemberg, B. Schorb, A. Lauber, W. Reißmann (Hrsg.): Das handelnde Subjekt und die Medienpädagogik: Festschrift für Bernd Schorb. München 2013.

4. Studie von DAK-Gesundheit und UKE Hamburg (November 2021): »Aktuell nutzen 4,1 Prozent aller 10- bis 17-Jährigen in Deutschland Computerspiele krankhaft. Hochgerechnet wären so rund 220.000 Jungen und Mädchen betroffen, was im Vergleich zu 2019 einen Anstieg um 52 Prozent bedeutet.« https://t1p.de/dak-mediensucht

5. Cyberlife III: Das Bündnis gegen Cybermobbing e.V. hat in Kooperation mit der TK die bisher größte Studie zum Thema Cybermobbing herausgegeben. Immer mehr Schülerinnen und Schüler sind von Cybermobbing betroffen. »Die Zahl der Betroffenen ist seit 2017 um 36% angestiegen, von 12,7% in 2017 auf 17,3% in 2020.« https://t1p.de/tk-cybermobbing

6. JIM-Studie 2020: https://t1p.de/rllr

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