Ausgabe 04/25

Zeitgenossenschaft und demokratische Bildung

Axel Brucker


In den Vorträgen Steiners findet sich immer wieder der Begriff der Zeitgenossenschaft. Dies darf man sowohl als Impuls für die Unterrichtenden als auch als Aufforderung für die Unterrichtsinhalte verstehen. Wenn man versucht, auf die latenten, die Jugendlichen bewegenden Fragen zu hören, zeigt sich, dass sie uns die Frage stellen «Wie gehst Du mit den Fragen der Zeit um? Welche Haltungen hast Du entwickelt? Wie stehst Du der Welt gegenüber?» Je krisenhafter die Zeiten erlebt werden, umso brennender werden diese Fragen, die ja zutiefst persönliche Fragen sind. Und genau hier ergibt sich eine große Herausforderung, denn im Unterricht sind wir aufgefordert, im Sinne des Beutelsbacher Konsens‘ zu arbeiten. Das bedeutet, dass im Unterricht keine Indoktrination stattfinden darf, dass dasjenige, was in Wissenschaft und Politik kontrovers diskutiert wird, auch im Unterricht in seiner Diversität bearbeitet werden muss, dass die Schüler:innen in die Lage versetzt werden müssen, eine politische Situation im Zusammenhang mit ihrer eigenen Interessenlage zu analysieren. Das scheint zunächst im Dissens zu den oben beschriebenen latenten Fragen zu stehen.

Wie also damit umgehen? Wer wie ich vor allem in den Fächern Geschichte und Politik unterrichtet, weiß ein Lied davon zu singen, wenn man zusehends mit demokratiefeindlichen und menschenrechtsverachtenden Haltungen konfrontiert ist, die im Netz fröhlich Urständ feiern und – das muss leider konstatiert werden – bei der einen oder anderen Lehrkraft auch in Waldorfschulen zum Ausdruck kommen.

An der Freien Waldorfschule Gutenhalde versuchen wir, uns nicht als außerhalb der Gesellschaft stehende Einrichtung mit besonderen Bildungs- und Erziehungsangeboten zu sehen, sondern als Teil einer pluralistischen Bildungslandschaft in Filderstadt, die auch in die kommunale Politik und die Landespolitik eingebunden und in ständigem Austausch ist. Dies können und sollen auch unsere Schüler:innen erleben, wenn sie sich zu den Wahlen des Jugendgemeinderats aufstellen lassen und gewählt werden oder wenn regelmäßig der Bürgermeister zu besonderen Anlässen die Schule besucht und ins Gespräch geht – dann werden Politik und Demokratie erlebbar. Besondere Ereignisse sind in diesem Kontext auch die Besuche des Ministerpräsidenten von Baden-Württemberg, Winfried Kretschmann, der im Zuge unserer 40-Jahr-Feier bereits zum dritten Mal unsere Schule besuchte, um mit Schüler:innen ins Gespräch zu kommen. Zu Kretschmann besteht eine Bindung, die noch in die Zeiten seiner Tätigkeit als Fraktionsvorsitzender der Grünen im Baden-Württembergischen Landtag Anfang der 1980er Jahre zurückreicht. Damals war er einer der Abgeordneter aus unserem Wahlkreis und die Schule hat den Kontakt seither gepflegt.

Sechs Jugendliche aus der Oberstufe stellten Fragen zu Klimawandel, Transformation, Migration und Demokratie in Zeiten weltweit zunehmender rechter und nationaler Gesinnung. Die Oberstufe war eingeladen, an diesem Podiumsgespräch teilzunehmen. Hier konnten die Jugendlichen die Komplexität demokratischer Entscheidungsprozesse durch die direkten und persönlichen Ausführungen eines Politikers erfahren. Sie konnten erleben, dass Demokratie ein Prinzip auf Augenhöhe sein kann, wenn sie im Gespräch neben dem Ministerpräsidenten saßen und direkter Kontakt spürbar wurde. So können solche Ereignisse auch in der Nacharbeit im Unterricht Anlass und Ansporn sein, sich als Jugendliche mit Demokratie und Politik auseinanderzusetzen und Wege zu finden, sich in die Gesellschaft einzubringen.

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