Ausgabe 10/24

Zeitwohlstand und Zeitknappheit

Heidi Käfer
Heidi Käfer
Bild: willma / photocase.de

Seit Jahrhunderten messen wir so ziemlich alles: Räumliches, Akustisches, Körperliches. Alles scheint nur dann beschreibbar, wenn es auch quantifizierbar ist. Auch das, was wir Zeit nennen, ist eigentlich nur die Messung der Strecke von einem Zeigerpunkt der Uhr zum nächsten. Aber was ist Zeit eigentlich? Der vor zwei Jahren verstorbene Wirtschaftspädagoge Karlheinz Geißler beschäftigte sich intensiv mit kulturhistorischen und sozialen Fragen zur Zeit und kam zu dem Ergebnis, dass die Menschheit trotz aller Bemühungen bis heute Zeit nicht direkt greifen kann. Sie wird als diffuses Phänomen erlebt, das nie direkt, sondern immer an etwas anderem, beispielsweise am Stand der Sonne, dem Blattfall der Laubbäume, an Festtagen oder der Uhr, abgelesen wird. Wir sprechen eigentlich von Veränderungen, Dynamik und Prozessen, «dem Übergang von einem Zustand in den anderen», wenn wir von Zeit sprechen.

Die Erfindung Zeit


Schwer können wir uns vorstellen, dass es diese Praktik, Zeit in menschengemachten Formen zu definieren – Sekunden, Minuten, Stunden – erst seit der Renaissance gibt. Mit der Uhrzeit gibt es die Pünktlichkeit, gibt es eine bestimmte Ordnung und eine Bewegung weg vom rhythmischen hin zum getakteten Lebensstil. Und das war eben nicht immer so. Der Kultursoziologe Norbert Elias stellte in seinem Werk Über die Zeit ein Gleichnis auf, das gut verbildlicht, wie sehr wir «Kinder unserer Zeit» sind: Er erzählt die Geschichte einer Gruppe von Menschen, die in einem unbekannten, sehr hohen Haus immer weiter aufwärts stieg. Die ersten Generationen der Gemeinschaft drangen bis zum fünften Stock vor, die nächsten bis zum siebten, die folgenden bis zum zehnten, und deren Nachkommen dann weiter bis in die hundertste Etage. Eines Tages brach das Treppenhaus zusammen und die Generationen, die es bis ins hundertste Stockwerk geschafft hatten, vergaßen im Laufe der Zeit, dass ihre Ahnen auf den unter ihnen liegenden Stockwerken gelebt hatten und wussten nicht mehr, wie sie in die hundertste Etage gelangt waren. Sie sahen sich selbst und die Welt nur aus der hundertsten Etage und hielten ihre Annahmen für die einzig wahren. Heute tun wir das genauso, wenn wir bei der Frage nach der Zeit reflexartig auf die Uhr oder aufs Handy gucken. Wir könnten uns ja eigentlich auch auf den Sonnenstand und andere rhythmische Naturphänomene als Ordnungsgeber berufen, wie das Menschen in der Vormoderne getan haben. Und auch heute noch leben Menschen auf dieser Welt, die ihr Handeln nicht an der Uhr ausrichten. «Nach Anbruch des Tages» oder «wenn/bevor/nachdem die Kühe an den Fluss gehen» sind dort relevante Zeitmarker. Sämtliche Berggipfel in den Alpen, die südlich einer Ortschaft stehen und über jenen die Sonne um 12 Uhr mittags steht, werden Zwölfer oder Mittagsspitze genannt. So erhalten auch Gipfel wie der Neuner oder Elferkofel ihre Namen. Dort, wo «Zeithandeln» an Naturrhythmen ausgerichtet ist, ist es eigentlich obsolet nach der Uhrzeit zu fragen. Könnten wir, die wir mitten in der hypermodernen Gesellschaft zeithandeln, nicht auch antworten «es ist Weizenernte» oder «die Zwetschgen sind reif», wenn uns nun jemand auf der Straße nach der Zeit fragt? Sie mit Qualität füllen? In unserer durch Zeitknappheit und Schnelligkeit geprägten Welt wäre eine solche Antwort nicht nur stark provozierend, fast verspottend für unser Gegenüber, das sich der Uhrzeit mit großem Ernst vergewissern will, sondern auch definitiv realitätsfremd.

Beschleunigte Welt


Die Uhr ist verantwortlich für die Erfindung des Kapitalismus. Das behauptet zumindest Karlheinz Geißler. Zeit konnte man mit einer immer gleichbleibenden Maßeinheit von sechzig Minuten in Geld umrechnen und auch Handel konnte irgendwann mit Zeit betrieben werden – Banken und Versicherungen basieren auf dem Handeln mit der Zeit. Und mit der Uhr konnte nun gemessen werden, ob man in der gleichen Zeit mehr oder weniger Geld verdient. Das Ziel, in der gleichen Zeit immer mehr Geld zu verdienen, führte laut Geißler letztendlich zu dem Streben schneller und schneller zu werden und dafür neue Transportmittel zu erfinden. Was die moderne Gesellschaft prägte und gleichzeitig zum Problem wurde, sei die Beschleunigung, also die fortschrittsbedingte Verschnellerung, die Zeitstrukturen in einer Gesellschaft so verändert, dass es stets um Steigerung geht. Mit dem Auto, Schiff und Flugzeug und der Digitalisierung sind wir heute zwar flexibel, unsere Welt ist groß, uns mangelt es jedoch paradoxerweise an Zeit.

Dass unser Umgang mit Zeit der Schlüssel zum Verständnis der modernen Gesellschaft ist, hat vielleicht keiner so anschaulich dargelegt wie der Soziologe Hartmut Rosa. Laut Rosa sind wir heute an einem Punkt des Beschleunigungsprozesses angekommen, an dem wir dessen Grenzen erreicht haben. Heute geht es darum, die Zeit immer stärker zu verdichten und noch mehr Dinge gleichzeitig zu tun. Auch Geißler stellte fest: Menschen heutzutage sind Simultanten. Wir können am Strand liegen und gleichzeitig Emails checken, Geld ausgeben, ein Hörbuch hören. Und wir können rund um die Uhr Dinge erleben, erledigen, es gibt immer mehr Apps, die uns dabei unterstützen. Zwar klingt das alles recht vorteilhaft, um nichtzusagen nach riesiger Freiheit, aber machen die ständigen Wechsel zwischen Orten, Erlebnissen und Tätigkeiten und der damit verbundene Fokus auf das Individuelle auch einsam. Um sich auf Zwischenmenschliches einlassen zu können, brauche man Langsamkeit. Es scheint jedoch so, als hätten wir keine andere Wahl. Wenn wir mit der Zeit mitgehen wollen, müssen wir Simultanten sein. Was ist also die Lösung, wie können wir den Umgang mit Zeit heute verändern?

Resonanzräume schaffen
 

Geißler plädiert für eine gelebte Zeitvielfalt, das heißt an einem Tag schnell sein, langsam sein, Pausen machen, Dinge wiederholen. Weder das Wohn- noch das Schlafzimmer sollten zum Büro umgewandelt werden, das Handy nicht überall mit herumgetragen werden. Laut Rosa liegt die Lösung für das Beschleunigungsproblem in der Resonanz. Und diese – spoiler alert – herzustellen, ist der Waldorfpädagogik ein großes Anliegen. Laut Rosa ist die Resonanz ein Beziehungsmodus, in dem gegenseitige Schwingungen erzeugt werden. Resonanz entstehe nicht nur im äußeren Verhältnis des Menschen zu seiner Umwelt, sondern auch im inneren zwischen Körper und Psyche. Wenn also Körper und Seele, Mensch und Umwelt miteinander in Einklang gebracht werden, entstehe ein Resonanzraum, dann erleben wir Resonanz. Große Krisentendenzen der Gegenwart wie Klimawandel, Politikverdrossenheit und psychische Krisen wie Burnout, Angst und Depression verbindet er mit einem gestörten Resonanzverhältnis, unter dem die Menschheit heute leidet.

Eine Form, in Resonanz zu treten, ist laut Rosa offline zu gehen. Permanent online zu sein, bedeute nämlich, ständig auf von außen wirkende Rhythmen reagieren zu müssen und diese gleichzeitig selbst wieder zu beeinflussen. Wenn man damit vorsichtiger umgeht, kann man sich Zeiträume schaffen, die man intentioneller füllen kann. Ständige Erreichbarkeit für alles führe zu einer Dissonanz mit den eigenen Rhythmen. Es gehe nämlich darum, Welt wahrzunehmen, körperlich in der Welt zu sein. Wenn Tätigkeiten, die diesen Zustand erzeugen, heute durch Hilfsmittel und Roboter ersetzt werden, so wie zum Beispiel das Rasenmähen, schaffen wir uns mögliche Formen des Körperlich in der Weltseins und mentale Freiräume ab. Der Anthropologe James Suzman bemerkte, dass sich Menschen heute in ihrer Freizeit Hobbys aneignen, die früher Arbeit und Alltag waren: gärtnern, kochen, weben, filzen, alte Häuser renovieren, Dinge reparieren oder sich sportlich körperlich verausgaben. Das moderne Konzept der Freizeit weist also anscheinend auf ein intensives Bedürfnis nach diesen ursprünglichen Arbeiten hin. Offenbar ist es wichtig, dass wir mit Kopf, Herz und Hand in Verbindung mit der Welt treten. Wer hätte das gedacht?

Der Waldorfpädagoge und Hochschulprofessor Tomáš Zdražil hat darauf hingewiesen, dass es kaum eine zweite Pädagogik gäbe, die so stark mit dem Resonanzansatz arbeitet, wie die Waldorfpädagogik. «Sie versteht ihre pädagogische Aufgabe als ein In-Einklang-Versetzen des Kindes mit sich selbst und mit der Welt. Sie beschreibt einen Bereich im Menschen, der rhythmisch mitschwingt, atmet, resoniert, das sogenannte rhythmische System, das Rudolf Steiner ‹das körperliche Organ der Erziehung, des Unterrichtes› nennt», so Zdražil in einem Aufsatz in der Erziehungskunst 2016.

Einen gesunden Umgang mit Zeit zu finden, sollte aber nicht nur in der Verantwortung des Individuums liegen. Beschleunigung ist etwas kollektiv verankertes, was dementsprechend auch eine gesellschaftliche Antwort verlangt. Die Digitalisierung ist ein junges Phänomen, beim Umgang damit sollte mehr Aufklärung stattfinden. Wir sollten uns kollektiv wieder die Frage nach dem guten Leben stellen und was wir mit unserer Lebenszeit anstellen.

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