Monatsmeinung

Die Wertschätzung augenblicklichen Menschseins

Angelika Lonnemann

Neulich, im Zug zur Arbeit. Eine Onlinekonferenz, an der ich mit Kopfhörern und Computer im Intercity teilnehme. Unter anderem geht es um das geplante Gendern in der Erziehungskunst. Später, kurz bevor ich aussteige, spricht mich ein etwa 40-jähriger Mann an: »Ich habe gerade mitgehört und finde, Sie haben ganz recht. Die Zeit ist reif und man merkt plötzlich, wenn jemand nicht gendert!« Er selbst gendere auch beim Sprechen, berichtet er mir, die meisten seiner Kund:innen fänden das prima und lobten ihn ausdrücklich dafür. Und wenn es mal jemanden gibt, dem das nicht gefällt, dann lässt er es im Gespräch mit dieser Person einfach sein.

Sprache ist ein lebendiges System. Ständig kommen neue Worte hinzu, dafür geraten andere in Vergessenheit. Auch die Sprachgewohnheiten ändern sich, das ist ein Veränderungsprozess von Generation zu Generation. Wenn nur eine einzige Person gendern würde, dann würde das von niemandem bemerkt. Der Schriftsteller Arno Schmidt nutzte die Satzzeichen auf eine äußerst kreative Weise, um Sinn zu stiften und poetische Bilder zu schaffen. Trotzdem wurde diese großartige Bereicherung von Ausdrucksmitteln im Schreiben im Nachkriegsdeutschland nicht zum Trend und es hatte keinen Einfluss auf die gesellschaftliche Entwicklung.

Das Gendern ist eine Bewegung, der sich schon viele angeschlossen haben. Weil immer mehr Autor:innen, Medienmacher:innen, Politiker:innen und selbst unbekannte Reisende im Zug gendern, fällt es mir auf, wenn es jemand nicht tut.

In Europa war Sprache über Jahrhunderte durch den Mann dominiert. Sie war immer ein Parallelsystem zum Gesellschaftssystem. Das Patriarchat wurde in vielen Bereichen schon abgelöst, an etlichen Stellen blitzt es aber noch auffällig hervor.

Sprechen ist Handeln. Nicht nur im sogenannten Sprechakt, wenn mit Sprache eine Handlung ausgeführt wird (»Ich segne Dich«). Sprechen ist auch Handeln, weil es eine Reaktion des Gegenübers provoziert. Damit findet Interaktion zwischen Menschen statt, womit Wirklichkeit geschaffen wird. Wir zeigen auch mit dem Gebrauch bestimmter Wörter, wo wir stehen: wo wir politisch verortet sind, welcher Bildungsschicht wir angehören, zu welcher gesellschaftlichen Gruppe wir gehören. In der Erziehungskunst wollen wir ab sofort zu der Gruppe gehören, die durch das Gendern das Signal aussendet, dass wir alle Geschlechter mitdenken.

Sprache hat Einfluss auf unser Denken. An der Freien Universität Berlin gab es eine Untersuchung, bei der knapp 600 Grundschülerinnen und Grundschülern Berufsbezeichnungen vorgelesen wurden. Einmal nannte man den Kindern die Doppelnennung (wie etwa Ärztinnen und Ärzte), einmal nannte man nur die männliche Form (Ärzte). Das Ergebnis war, dass von den Mädchen, die die Doppel­nennung gehört hatten, sich einen »typisch männlichen« Beruf für sich vorstellen konnten. Bei denen, die nur die männliche Form gehört hatten, waren es deutlich weniger.

Sprache ist ein Werkzeug, mit dem wir ausdrücken, was wir erleben, fühlen oder denken. Unser Sprechen und Schreiben wirkt damit auch auf die Leser:innen und Hörer:innen und Ihr Denken. Sprache erschafft Realität und kann mit dem Gendern also fairer und inklusiver werden.

Gendern hat eine inklusive Funktion. Wir möchten, dass sich alle angesprochen fühlen und sich niemand ausgeschlossen fühlt. Gendern macht Frauen und alle anderen Nicht-Männer-Identitäten sichtbar und ist damit eine Möglichkeit, Gerechtigkeit herzustellen.

Das Hauptthema der erziehungskunst ist gute Pädagogik. Bildung ist eine wesentliche Ressource in Europa und überall auf der Welt. Diese Ressource ist ungleich verteilt und die Erziehungskunst möchte sich auch mit dem Gendern dafür einsetzen, dass sich das ändert. Pädagogik soll Persönlichkeiten bilden und Orientierung geben. Und wenn es Sprache gelingt, Wirklichkeit zu spiegeln, dann schafft auch sie Orientierung.

Geschlechtergerechtigkeit hat etwas mit Feminismus zu tun, mit Diversität und Rücksichtnahme auf individuelle Lebensentwürfe. Unser erziehungskunst spezial, das in dieses Heft (ab Seite 21) integriert ist, handelt diesmal von der »Beziehungskunst« – und wir thematisieren darin die Herausforderung, wie heute an Waldorf­schulen mit Sexualität, Liebe, Identität und Vielfalt umgegangen werden kann. Da hat es für uns gut gepasst, unsere Texte mit dem ersten Heft im Jahr 2022 auf die gendergerechte Sprache umzustellen. Wir folgen hier also dem Bund der Freien Waldorfschulen nach, der bereits seit 2014 in seinen Publikationen gendert.

Welche Gender-Formen wir nutzen werden

Doppelnennung

»Waldorflehrerinnen und Waldorflehrer«

  • Vorteil: grammatikalisch richtig
  • Nachteil: der Text wird länger und es werden andere ausgeschlossen

Der Gender-Doppelpunkt

»Schüler:innen«

  • Vorteil: Sätze werden nicht länger, das Symbol bezieht alle mit ein, nicht nur Frauen und Männer; kleine Pause durch : vorlesbar für Menschen mit Sehbeeinträchtigung
  • Nachteil: manche Leser:innen stören sich an der Unterbrechung des Leseflusses

Geschlechtsneutrales Plural

»Studierende«, »Lehrende«, »Mitarbeitende«

  • Vorteil: kurz und geschlechtsneutral, guter Redefluss
  • Nachteil: Die eigentliche grammatikalische Form ist das Partizip Präsens. Und dieses bedeutet etwa bei Studierenden Menschen, die im Moment im Begriff sind zu studieren und eben nicht eine geschlechtsneutrale Menge von Studentinnen und Studenten.

Aber:   Die bewusst eingeführte Bedeutung wird die alte Bedeutung vermutlich eines Tages überlagern.

Problem: lässt sich nicht für alle Wörter bilden

Neutrale Formulierungen

»Lehrkraft«, »Vertretung«, »Person«, »niemand«, »jemand«

  • Vorteil: guter Redefluss, Versachlichung der Sprache
  • Nachteil: Versachlichung der Sprache (sic!)

Und auch sonst wollen wir versuchen, mit unseren Formulierungen sensibel auf die heutige Wirklichkeit einzugehen.

Kommentare

Manfred Feyk, 37120 Bovenden,

Ich finde es sehr schade, dass die Redaktion sich auf Gender-Formen einlassen will. Dies hat leider überhaupt nichts mit der Überschrift "Die Wertschätzung augenblicklichen Menschseins" zu tun. Ich empfehle (nicht nur der Redaktion) dringend die Zeitung "Deutsche Sprachwelt" (22. Jg., zuletzt Ausgabe 86, Winter 1021/2022), in der sich viele herausragende Persönlichkeiten sprachkritisch auch zum Gendern äußern/äußerten.

S. Meyer-Schenk,

Oh mein Gott neue Redakteurin kommt gleich zum Spalthema. Ich finde es furchtbar und werde die Zeitung wohl nicht mehr lesen. Schade drum. Und im übrigen ist das ein Thema, das durch Medien geschaffen wird und nicht im natürlichen Sprachgebrauch.

Karl Briegleb,

Das Gendern ist ein Programm zur Veränderung von Sprache, das praktisch ausschließlich von staatlicher Seite eingeführt wurde (u.a. über die Universitäten und den öffentlich-rechtlichen Rundfunk). Hier werden neue Standards gesetzt und durch die moralische Aufladung werden Menschen genötigt, sich daran zu beteiligen. Es ist beschönigend und irreführend, sich in diesem Zusammenhang auf Sprache als einem lebendigen System zu beziehen, oder vom Gendern als einer "Bewegung" zu sprechen. Ich finde es sehr bedauerlich, dass sich die Erziehungskunst als Vertreter der Waldorfpädagogik dieser Form von "Volkserziehung" anschließt. Es handelt sich meiner Ansicht nach eher um eine Beschädigung bzw. Zerstörung der lebendigen Sprache, und ist auch mitnichten inklusiv, wie schon vielfach aufgezeigt wurde. Hilfreich wäre vielmehr gewesen, dieses Thema im Heft aufzugreifen und zu beleuchten.

Andreas Hildermann,

Das neue Heft ist für einen klardenkenden Menschen leider nicht mehr lesbar. Das quillt über mit allen nur möglichen politischen Ideologien. Gendern, Klimaaktivismus, Sexualrevolution etc. Das Gendern hat nichts mit dem Wandel der Sprache zu tun. Die Sprache ändert sich fortwährend, aber nur deswegen, weil sie lebendig ist und aus sich heraus sich ändert. Man könnte sagen, es sind die Menschen, die die Sprache leben. Beim Gendern wird die Sprache praktisch von oben aufgesetzt, das ist die Zwangsänderung der Sprache und hat leider nichts mehr mit Lebendigkeit zu tun. Es tut mir wirklich leid, ich habe die Erziehungskunst immer gern gelesen und viele Hefte werfe ich nicht weg, die liegen immer noch bei mir im Schrank, um immer wieder dahin zurückzukehren. Das muss ich leider als politische Propaganda ansehen und hat für mich nichts mit der anthroposophischen Erziehung zu tun. Schade.

David Reymann,

Jeder darf wegen mir reden, lieben, hassen etc. wie er mag. Das so ein Artikel allerdings gleich im ersten Absatz zum Ausschluss und Diskriminieren indirekt aufruft - ist das Sinn und Zweck von gendern?
Für mich eine peinliche Selbstentlarvung. Wünsche viel Erfolg bei den neuen Zielen - schade um das viele Papier der 60k Auflage.
Vielleicht kann ich durch eine schnellere und stapelweise Rückführung der Altpapiermenge zumindest dem Recycling einen neuen Dienst erweisen.

Dirk Kirchhof,

Hallo,
auch ich bedauere, dass sich die erziehungskunst dem "Diktat der Allgemeinheit" unterwirft, da doch sehr gut aufgelistet wurde, welche Unzuläglichkeiten hier entstehen.
Ich freue mich über eine kritische Betrachtung und schlage vor: "Entgendern nach Phettberg" zu betrachten

Kim Griebler,

Das ist ein erster Schritt in die richtige Richtung. Wie Sie schreiben, war und ist Sprache in ständiger Entwicklung. Veränderung macht vielen Menschen vermutlich Angst, daher verstehe ich, dass einige Personen sich vehement dagegen sträuben. Vielleicht fühlen sie sich sogar hilflos. Es ist allerdings schade, wie verbissen sich in den Kommentaren dazu geäußert wird.
Ich für meinen Teil finde es jedenfalls großartig, dass dieser Artikel die Hintergründe gendergerechter Sprache aufgreift und Anleitung für die Praxis gibt. Inklusion ist nichts, das man in einem Bereich gutheißen und in einem anderen aufgrund persönlichen Geschmacks ablehnen kann. Wer das trotzdem tut, stellt sich grundsätzlich gegen Inklusion und braucht sich da auch nicht in die eigene Tasche zu lügen.

Pit Blaser, Ahrweiler,

Um Himmels Willen.
Ich hatte begonnen mich der Lehre Steiners anzunähern in der Hoffnung, das dort noch ein Rückzugsort der Vernunft, basierend auf Steiners klugen und klaren Texten zu finden sei, was ich jedoch hier lese macht mir deutlich, dass die entsetzliche Kulturrevolution überall wütet.
Schon vor Jahren konnte ich beobachten das an der Alanus Hochschule in Alfter eine Riege von sich selbst als auserwählt wähnenden den Lehrkörper bereicherten, dazu traf ich auf einen alten Bekannten. Der Mann hatte es geschafft, den „Lehrstuhl für Kunst im Dialog“ zu besetzen.
Mir war der Gute bis dahin eher als Meister des sinnlosen Monologs begegnet, ein alkoholaffiner Straßenpoet, den man in einen gebrauchten Anzug gesteckt hatte.
Ich weiss nicht wie ich „man“ gendern sollte und will es auch nicht wissen.
Mir bleibt nur Dostojewski der folgend schrieb: Die Toleranz wird so groß werden, dass man den klugen das Denken verbieten muss, weil es die Dummen beleidigt.