Ausgabe 05/25

Zuhören mit offenem Herzen

Jürgen Beckmerhagen


Im März 2023 hatte Constanze Eppel, Mathematiklehrerin an der Freien Waldorfschule Heidenheim, die Vision von eine Jurte auf dem Schulgelände. Sie sollte als Begegnungsstätte für Schüler:innen und Lehrer:innen dienen. Eppel stellte sich einen Raum vor, in dem Menschen im Kreis sitzen, auf Augenhöhe miteinander sprechen und ihre Träume teilen können. Inspiriert wurde sie dazu von ihren Erlebnissen bei Nomaden in der Mongolei und einem Seminar über das Gesprächsformat Council. Das Council-Format, das Eppel im Seminar kennengelernt hatte, ist mehr als eine Gesprächsrunde. In der Mitte liegt ein Redegegenstand – ein Symbol, das den Raum für die Worte einer Person markiert. «Das Wesentliche an Council ist das Zuhören mit offenem Herzen», so Eppel. Diese einfache Regel schafft einen geschützten Raum für ehrliche Worte und macht Platz für Träume, die sonst ungesagt bleiben. Mit einer Jurte, dachte Eppel, könnten die Schüler:innen nicht nur einen neuen Raum schaffen, sondern auch lernen, wie viel sie erreichen können, wenn sie eine Vision haben und Verantwortung übernehmen. So begann eine Reise, bei der die Jugendlichen über sich hinaus wuchsen – weit über das bloße Bauen hinaus.

Mitte März 2023 reichte Eppel den Antrag auf Fördermittel aus dem Programm ZukunftsPaket ein. Das Zukunftspaket für Bewegung, Kultur und Gesundheit ist ein Programm des Bundesfamilien­ministeriums (BMFSFJ). Bereits Ende April kam die Zusage: 80.000 Euro sollten ausgezahlt werden unter der Bedingung, das Projekt bis Dezember 2023 abzuschließen. Der enge Zeitrahmen forderte das Kollegium heraus. «Die Jahresplanung war längst gemacht und dann kam dieses Projekt mit zusätzlichen Terminen. Ich verstehe, dass das manchen Kolleg:innen zu viel war», sagt Eppel. Aber alle Lehrkräfte, die die Motivation und das Engagement der Schüler:innen erlebten, unterstützten das Projekt tatkräftig. Im großen Saal der Schule stellten im April 2023 Eppel und die externe Projektbegleiterin Janina Hermanns 130 Schüler:innen der Klassen 5 bis 11 ihren Traum von einer Jurte vor. Tierbilder symbolisierten die Eigenschaften der vier Projekt-Teams: Planung, Umsetzung, Kreativität und Bau. «Wir stellten uns zu den Tieren, die unsere Interessen und Eigenschaften widerspiegelten», erzählt Charlotte aus der siebten Klasse. Daraufhin wurden die Teams gebildet: 20 Schüler:innen im Kernteam für Strategie, 80 im Marketing-Team und 30 in den Teams für Standortaufbereitung und Bau. Anfangs stellte die jahrgangsübergreifende Zusammenarbeit das Projekt vor Herausforderungen. «Die Älteren dachten, die Jüngeren könnten nichts beitragen, und die Jüngeren fühlten sich nicht ernst genommen», erklärt Richard aus der elften Klasse. Doch durch das Council-Format, bei dem jede Meinung zählt, überwanden sie die Spannungen. Elftklässler Magnus resümiert: «Am Ende arbeiteten wir super zusammen. Das hat uns echt zusammengeschweißt.» Bemerkenswert war die Eigeninitiative der Schüler:innen bei der Baubefragung. Neben dem selbstständigen Einreichen des Bauantrags im Rathaus – ein Meilenstein, bei dem sie eigenhändig alle erforderlichen Dokumente überreichten – trugen Schüler:innen die Verantwortung für die Kommunikation mit den Nachbarn. Die Jugendlichen gingen von Haus zu Haus, klingelten und erklärten das Projekt. Beim ersten Haus baten sie noch Hermanns um Unterstützung: «Janina, du redest.» Doch schon beim zweiten hieß es: «Janina, bleib auf der Straße stehen, wir schaffen das alleine.» Diese Entwicklung führte dazu, dass sie nicht nur mit Begeisterung, sondern auch mit zunehmender Selbstsicherheit das Projekt vertraten.

Die Stadtverwaltung machte die Genehmigung des Bauantrags von Auflagen abhängig und forderte etwa eine barrierefreie Gestaltung der Jurte mit Rampe. Die beiden Siebtklässlerinnen Lotta und Charlotte argumentierten im persönlichen Gespräch mit den Sachbearbeiter:innen, dass der Gartenbau ohnehin nur über steile Hänge und Stufen erreichbar sei und eine Rampe daher sinnlos wäre. Ihre überzeugende Darstellung führte dazu, dass die Auflage entfiel. Die gemeinsame Arbeit innerhalb enger Zeitvorgaben – bis zu den Sommerferien blieben nur sechs Wochen – zeigte, wie wichtig Teamarbeit über Altersgrenzen hinweg ist. Im Mai 2023 traf sich ein Kernteam aus 20 Schüler:innen, um die Vision für die Jurte zu entwickeln. Schnell einigten sie sich darauf, einen Raum zu schaffen, der ausschließlich von Schüler:innen verantwortet wird. Bei der Handynutzung gingen die Meinungen jedoch auseinander. Nach anfänglichen Auseinandersetzungen schlug Hermanns das Council-Format vor, das zu einem Kompromiss führte: Handys sollten nur für Musik erlaubt sein.

Trotz der vielen Arbeit, des Zeitdrucks, der Anwohner:innenbefragung und der Einwände des Bauamts blieb die Motivation der Schüler:innen ungebrochen. Das Council-Format, bei dem jede:r Gehör findet, stärkte den Zusammenhalt und die Eigeninitiative. So arbeiteten sie nachmittags nach der Schule, an Samstagen und sogar in den Ferien. «Von Mai bis Juli wurde das Gelände vorbereitet, planiert und mit Kies bedeckt», berichtet Eduard Marker, der die Schüler:innen bei dem Jurtenbau begleitete. Marker stammt aus Kasachstan und ist Handwerker, daher war er ein gefragter Experte. Im Oktober 2023 war es so weit – Schüler:innen, Projektbegleitende, Eltern und Lehrer:innen stellten die Jurte an einem Tag auf. Die eingedeutschten Jurten werden in Bayern hergestellt. Die Außenwand hat drei Lagen: Baumwolle, Filz, imprägnierter Stoff. Das Dach besteht aus einem Material ähnlich der LKW-Plane. Eingedeutscht müssen die Jurten sein, damit sie dem feuchten Klima standhalten. Daher ist der Boden der Jurte auch 40 cm über der Erde. Die Schüler:innen haben die Stoff- und Filzbahnen aneinandergenäht und die Latten der Außenwand zusammen gebunden. Teilweise hatten sie im Handwerks- und Handarbeitsunterricht auch die Fichten für das Dach geschlagen, entastet und geschält.

Lotta aus der siebten Klasse berichtet: «Wir haben an dem ZukunftsPaket-Wettbewerb teilgenommen und gewonnen. Zwei aus unserem Team durften im November 2023 nach Berlin fahren und das Projekt beim Bundesministerium vorstellen.» Für die Präsentation erstellten die Schüler:innen ein Plakat mit Antworten auf die vier folgenden Fragen: Was habt ihr im Projekt gemacht? Was hat es euch gebracht? Warum ist Jugendbeteiligung wichtig? Was ist die Botschaft der Jugendlichen an Erwachsene? Auf die letzte Frage hin stand in einer Sprechblase: «Das fuckt mich ab.» Der provokante Satz sorgte für Aufruhr in der Schule. Lehrkräfte hängten das Plakat ab und diskutierten in einer Konferenz, ob der Text so stehen bleiben könne. Die Schüler:innen wurden eingeladen und verteidigten ihre Entscheidung: «Es frustriert uns, dass wir oft gefragt werden, was wir wollen, unsere Meinungen aber trotzdem ignoriert werden.» Beeindruckt von der Klarheit und Entschlossenheit der Schüler:innen aus den Klassen 6 und 10 entschied man gemeinsam, das Plakat unverändert nach Berlin zu schicken. Bis Mai 2024 gestaltete das Merchandising-Team T-Shirts und Tassen, um den Kauf eines Ofens und weiterer Einrichtungsgegenstände zu finanzieren. Jan-Philipp aus der achten Klasse fasst zusammen: «Es war unser Projekt. Wir hatten ein klares Ziel und wussten, dass wir es schaffen können.» Lotta ergänzt: «Ich hätte nie gedacht, dass ich so viel beitragen kann. Mit einem Ziel vor Augen wächst man über sich hinaus.»

«Die Jurte ist mehr als ein Raum. Sie ist ein Symbol für das, was Schüler:innen geschaffen haben», sagt Geschäftsführer Guntram Holzwarth. «Noch wichtiger ist, dass ihre Initiativkraft weit über das Projekt hinausgeht. Sie haben verstanden, dass sie Träume nicht nur äußern, sondern verwirklichen können.» Weitere Visionen an der Schule sind eine neue Schülerband, ein Roboter-Raum sowie ein Parkour. Constanze Eppel ist zufrieden: «Die Jurte ist nicht nur ein Raum. Sie ist ein Symbol für Begegnung und Miteinander, sie ist belebt mit Diskussionen, Rückzugsmöglichkeit und gemeinsamen Visionen. Und genau das brauchen wir.»

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