Zwischen Heidelberg und Twer. Deutsch-russischer Austausch

Ekaterina Koneva

An der Freien Waldorfschule in Heidelberg lernen alle Schüler ab der ersten Klasse Russisch als zweite Fremdsprache. Nachahmend, nachsprechend tauchen sie in die Sprache ein und denken nicht daran, ob es schwer oder leicht ist.

Tatsächlich ist festzustellen, dass viele unserer Schüler eine sehr gute Aussprache haben und über einen breiten Wortschatz verfügen, wenn er teilweise auch »passiv« und nicht immer gleich abrufbar ist. In der elften Klasse können die Schüler dann ein dreiwöchiges Sozialpraktikum in Russland absolvieren.

Während dieser Zeit arbeiten sie in russischen Einrichtungen, in Schulen, Kindergärten, Kinderheimen oder Krankenhäusern. Solche Aufenthalte wecken das Interesse an Russland und seinen Menschen. Die Schüler berichten mit viel Freude und Interesse davon.

In den letzten Jahren, aber besonders ab der achten Klasse aufwärts, ist immer stärker festzustellen, dass das Erlernen der russischen Sprache aus Eltern- und Schülersicht hinterfragt wird. Russisch hat generell keinen leichten Stand und wenn politische Schwierigkeiten hinzukommen (wie es in letzter Zeit verstärkt der Fall ist), so ist es doppelt schwer, die Jugendlichen für diese Sprache und deren Kultur zu begeistern. Es wurde immer deutlicher, dass es für diese Altersstufe ein sich wiederholendes Projekt geben muss, um dem entgegenzuwirken. Erleben bringt viel mehr als darüber sprechen.

Vergangenen Sommer kam eine russische Gruppe von Siebtklässlern nach Deutschland, um ihre Deutschkenntnisse zu verbessern. Sie nahm am Russischunterricht unserer siebten Klasse teil. Man konnte sehen, wie offen und interessiert die Schüler miteinander kommunizierten. Wie ein Blitz kam der Gedanke: Warum fliegen wir im kommenden Schuljahr nicht nach Russland? Gesagt, getan. Einige Schüler waren von der Idee derart begeistert, dass viele Eltern diese Freude zu Hause spüren konnten. Nicht alle waren bereit, ihre Kinder in diesem Alter in ein unbekanntes Land reisen zu lassen. Zum Glück gab es aber genug Eltern, die die Idee unterstützten. Durch Sozialpraktika kannten wir die Schule N 35 in Twer, einer Stadt zwischen Moskau und St. Petersburg, bereits. Bald stand fest: Wir werden in russischen Familien untergebracht und dürfen die dortige Schule besuchen.

Die Ziele der Reise

Aus unserer Idee wurde ein großes Projekt. Die folgenden Ziele haben wir bei dieser Reise verfolgt:

• Urteilsfreies, angstfreies Kennenlernen von Russland und der russischen Mentalität

• Vertiefen der Sprache und der Kultur durch persönliche Kontakte und Besuche kultureller Einrichtungen

• Eine russische Schule kennenlernen, am Unterricht dort teilnehmen

• Grundlagen für weitere Beziehungen schaffen: E-Mail Kontakte, individuelle Besuche

• Neue Erfahrungen und Kenntnisse mit anderen in der Klasse oder sonstwo teilen.

Von Anfang an war uns klar, dass hier Weichen fürs weitere Erlernen der Sprache gestellt und viele Fragen wie von selbst beantwortet werden würden. Es reisten elf Schüler (zehn Achtklässler und ein Neuntklässler), begleitet von zwei Russischlehrerinnen, nach Russland. Ausgerechnet an dem Tag, als wir ankamen, fiel der erste Schnee, obwohl es noch Mitte Oktober war. Die Natur erschien uns wie im Bilderbuch. Genau so stellten sich viele Schüler Russland vor.

Eurasische Kultur erleben

Schon im Bus übten manche Schüler russische Sätze ohne jede Aufforderung. Wir Betreuer wurden immer wieder gefragt, welche kulturellen Unterschiede zwischen Russland und Deutschland bestünden. Sie wollten alles richtig machen, um nicht unhöflich zu erscheinen. Zum Beispiel ist es üblich, die mitgebrachten essbaren Geschenke sofort auszupacken und auf den Tisch zu stellen, anstatt sie für später aufzubewahren.

Rasch gelang es den Schülern, in die russische Kultur einzutauchen – auch jenen, die gleich am Anfang ihr gewohntes Umfeld vermissten.

Russland ist ein eurasisches Land. Städte wie Moskau und St. Petersburg wirken sehr europäisch, dennoch enthält die russische Kultur einen starken asiatischen Einfluss, der nicht zu unterschätzen ist. Je weiter von Moskau entfernt, desto stärker ist dies zu beobachten. Die russische Denkweise und Kultur unterscheidet sich deutlich von der westeuropäischen. Es gibt Eigenschaften, die im westlichen Europa über die Jahre immer mehr verloren gehen, wie zum Beispiel der natürliche Respekt von Kindern gegenüber erwachsenen Menschen, insbesondere Lehrern. Die Menschen sind dankbarer und selbstloser, aber auch flexibler im Umgang miteinander, was man als Gast schnell schätzen lernt.

In der Schule konnte man sehen, dass viele Lehrer ihren Unterricht veränderten, um unsere Schüler in die Arbeit einzubeziehen. Trotz des hohen Pensums an Hausaufgaben fanden die russischen Schüler immer wieder Zeit, mit ihren deutschen Gästen etwas zu unternehmen. Symptomatisch war die Antwort einer russischen Schülerin auf meine Frage, ob sie zum Bowling mitkommen wolle: »Es ist doch nicht so wichtig, ob ich es möchte, Hauptsache meine Austauschpartnerin möchte es.« Die gastgebenden Schüler waren jederzeit bereit, uns abzuholen oder irgendwohin zu bringen, ohne dass es im Voraus geplant werden musste.

Eine warme, von Herzen kommende Gastfreundschaft konnten die Schüler erleben. Der materielle Wohlstand ist in der Regel geringer, Wohnungen sind kleiner, beide Eltern müssen länger arbeiten. Auch dies konnten die Schüler wahrnehmen. Manche sagten, dass sie erst jetzt bemerkten, wie gut es ihnen eigentlich geht. In Twer waren unsere Schüler im Theater und in der Philharmonie, sie besuchten Klöster, Kirchen und Museen. Am letzten Tag waren wir in der russischen Hauptstadt. Schüler bereiteten Referate über verschiedene Sehenswürdigkeiten Moskaus vor: über den Roten Platz, das Lenin-Mausoleum, das Kaufhaus GUM, das Historische Museum, den Kreml, die Zarenkanone oder die Zarenglocke.

Moskau empfing uns mit Sonne und Frost. Mit Freude konnten die Schüler alles mit eigenen Augen sehen, was sie zuvor ausführlich für den Unterricht vorbereitet hatten. Als wir nach Deutschland zurückreisten, kamen die besuchten russischen Schüler mit zu uns. Dabei hatten viele unserer Schüler einen »direkten« Austauschpartner und so die Möglichkeit, drei Wochen lang miteinander zu kommunizieren: zehn Tage in Russland und zwölf in Deutschland. Eine Schülerin berichtete, dass sie mit ihrer Austauschschülerin eine Verabredung getroffen hatte, in Russland nur Russisch und in Deutschland nur Deutsch zu sprechen. Und dabei war es nicht wichtig, ob es immer klappte – das Bemühen war entscheidend.

Ob wir unsere Ziele erreicht haben? Eine Siebtklässlerin hat uns gefragt, ob wir nächstes Jahr die Reise noch einmal durchführen würden … Zwei Schülerinnen, die gerade in Russland gewesen waren, meinten, sie würden jederzeit wieder mitkommen und sich sogar trauen, so eine Reise zu zweit zu unternehmen, um ihre Freunde zu besuchen. Dieses Projekt hat ihre Herzen berührt.

Zur Autorin: Ekaterina Koneva ist Russischlehrerin an der Freien Waldorfschule in Heidelberg.