Ist das noch Waldorf oder kann das weg?

Von Angelika Lonnemann, Februar 2023

Die Delegiertentagung des Bundes der Freien Waldorfschulen (BdFWS) vom 26. bis 27. Januar in der Freien Waldorfschule Berlin-Südost widmete sich dem zeitgemäßen Verhältnis von Waldorfpädagogik, Rudolf Steiner und der Anthroposophie.

"We got all the love all that we need to change the world" sang der Oberstufenchor der Freien Waldorfschule Berlin Süd-Ost zur Begrüßung der rund 250 Delegierten der deutschen Waldorfschulen zu ihrer Tagung. Damit sandten die Schüler:innen einen bewegenden Appell für Frieden in die zum Saal umfunktionierte Turnhalle. Und ganz neben weckte das Lied Hoffnung auf eine starke junge Generation in einer Zeit, die von Krieg und Krisen gekennzeichnet ist.

Stefan Grosse, Mitglied des Vorstandes des BdFWS, führte einleitend ein, dass sich die Waldorfbewegung rund 100 Jahre nach dem Tod Rudolf Steiners dem Begründer der Waldorfpädagogik als Menschen nähern müsse. "Die Schriften Rudolf Steiners sind nicht der Koran, dessen Worte jahrhundertelang nicht verändert werden dürfen. Wir sind aufgefordert, den zeitgeschichtlichen Kontext in der Rezeption mitzulesen, um die wichtigen Impulse seines Werkes in die Gegenwart zu holen".

Anna-Katharina Dehmelt, Redakteurin der Zeitschrift info3, beschrieb in ihrem Impulsreferat die in den aktuellen Medienberichten wahrnehmbare Tendenz, die Anthroposophie in kleine Bruchstücke zu zersplittern und dekontextualisiert zu kritisieren und zu diffamieren. Sie sagte: "Rudolf Steiner ist 2023 längst woanders. Übrig ist sein Werk und wir stehen jetzt in der Phase der Historisierung".

Der Dekan der Alanus Hochschule Jost Schieren konstatierte in seinem Impulsvortrag, aktuell herrsche weltweit eine Empörungskultur vor, bei der ihm "das Herz eng" werde. "Jeden Tag wird Waldorf geblamet, das macht die Sache so dramatisch". Er beschrieb die Herausforderung, heute Waldorflehrkräfte auszubilden und unterstrich, Anthroposophie als Erkenntnisherausforderung und Methode anstelle von Bekenntnis und Glaubenslehre anzusehen.

Die folgenden anderthalb Tage beschäftigten sich die Delegierten abwechselnd in Arbeitsgruppen und bei Podiumsdiskussionen mit den verschiedenen Aspekten aktueller Steinerrezeption und dem Verhältnis von Anthroposophie und Pädagogik. Dabei wurde immer wieder auf eine multiperspektivische, differenzierte Behandlung von Steinertexten gedrängt. Die Waldorfschulen müssten sich mit einer klaren, öffentlichen Haltung von allen schwierigen (antisemitischen, rassistisch-diskriminierenden) Texten Steiners distanzieren. Der Lehrplan müsse mit einer globalen Perspektive um viele andere Narrative (zum Beispiel im Geschichts- und Politikunterricht) erweitert werden, führt Hochschuldozent Michael Zech in seinem Impulsreferat aus. Um die vorwiegend eurozentristische, von den christlichen Geschichten und hierarchisierten Kulturbegriffen durchdrungene Perspektive auf die zugrundeliegende menschliche und zwischenmenschliche Moral zu erweitern, von der sich auch aus anderen Kulturen und Religionsgemeinschaften erzählen lasse. Die weltweite Verbreitung von Waldorfschulen ermöglicht hier unkomplizierten Austausch und Entwicklung. Hochschullehrer Tomáš Zdražil stellt ein seinem Impulsbeitrag heraus, dass wir aufgerufen sind, die Gedanken Steiners nicht als geschlossenes theoretisches Konstrukt zu verstehen, sondern sie aufzugreifen und fortzuführen.

Hochschullehrkräfte berichteten von Studierenden, die berührt sind von der Waldorfpädagogik, die die Seele des Kindes miteinbezieht. Jüngere Studierende seien zunächst oftmals misstrauisch gegenüber einer befürchteten Weltanschauung. Sie kämen jedoch mit einer empathischen Haltung in die Schulen und würden dann feststellen, dass Waldorfpädagogik vor allem durch eine besondere Beziehung zwischen Lehrkraft und Kind gekennzeichnet sei.

In den Arbeitsgruppen, von denen eine den provokanten Titel "Ist das noch Waldorf oder kann das weg?" trug, ging es unter anderem um Nachwuchsförderung für Lehrkräfte an staatlichen Hochschulen, um die Dynamisierung der Lehrer:innenausbildung, um die Aktualität spiritueller Elemente in der Waldorfpädagogik, um die Schlagworte Esoterik, Weltanschauung, Menschenkunde sowie um den Wissenschaftsbegriff in der Anthroposophie. Waren die Arbeitsgruppen zu groß, wurden die Teilnehmer:innen in kleinere Teams zusammengefasst.

Nele Auschra, Vorstand im BdFWS zeigte sich am Ende der Tagung sehr zufrieden. "Die Tagung hat mir gezeigt, dass Anthroposophie Streben ist nach Erkenntnis in der Ausarbeitung und Fortführung einer zeitgemäßen Pädagogik, die die Entwicklungsmöglichkeit jedes Menschen in der Gemeinschaft in den Mittelpunkt stellt. Für mich ist entscheidend, was an den Schulen lebt, und dafür hoffe ich, dass es gelingt, das Bewusstsein für diese Fragen noch stärker zu schärfen. Solche Begegnungen wie hier in Berlin wünsche ich mir für die Modernisierung der Waldorfpädagogik noch öfter".

"Ich freue mich, dass wir in diesen anderthalb Tagen Gelegenheit hatten, so viele Aspekte von Waldorfschule heute kennenzulernen", resümierte ein delegierter Lehrer aus Bayern. "Ich war noch nicht oft auf den Bundesdelegiertentagungen und verstehe auch nicht immer jedes Wort – aber es fühlt sich gut an, dass die Herausforderungen, die ich an meiner Schule wahrnehme, offensichtlich auch an anderen Schulen bestehen und dass wir hier darüber sprechen konnten – nicht nur in den Arbeitsgruppen, sondern auch in vielen Gesprächen am Rande".

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