Bologna statt Waldorf

Lars Grünewald, Eugen Riesterer, Tom Singer-Carpenter

Durch den sogenannten Bologna-Prozess will die EU das europäische Hochschulwesen vereinheitlichen. Das hat fatale Folgen für die Waldorflehrerausbildung.

Vordringliches Ziel des Bologna-Prozesses ist es, die europaweite Mobilität der Studierenden zu fördern und die Gleichheit ihrer Einstellungschancen in allen EU-Ländern zu gewährleisten. Erreicht werden soll das durch ein System leicht lesbarer und vergleichbarer Hochschulabschlüsse. Um sämtliche Hochschulen miteinander vergleichen zu können, werden alle Studiengänge »modularisiert«. Dazu müssen sämtliche Leistungseinheiten inhaltliche und formale Kriterien erfüllen, mit dem Ziel, sie »gleichwertig, aber nicht einheitlich« zu machen. Nach den Vorgaben der Kultusminister-Konferenz gelten Module als gleichwertig, wenn sie einander in Inhalt, Umfang und Anforderungen im Wesentlichen entsprechen. Nun sind aber Module, die einander nicht nur in Umfang und Anforderungen, sondern auch bezüglich ihrer Inhalte entsprechen, doch wohl nicht nur gleichwertig, sondern – im Gegensatz zur Verlautbarung – auch einheitlich. In seinem in der Zeitschrift «Recht und Bildung« abgedruckten Aufsatz »Waldorflehrerbildung im Bologna-Prozess« (Heft 4/2009) führt Peter Loebell – Professor an der Freien Hochschule in Stuttgart – weitere Eigentümlichkeiten des Verfahrens an:

Von den beiden vorgesehenen Hochschulabschlüssen qualifiziert der Master zum Klassen- und Fachlehrer, der Bachelor hingegen nur zur Tätigkeit als Lernbegleiter im Unterricht; aber erstens dürfte sich wohl kaum ein Student der Waldorfpädagogik nicht zum vollwertigen Lehrer qualifizieren wollen und zweitens sind zusätzliche Lernbegleiter für die Schulen sicherlich nicht finanzierbar. Statt Abschlüsse für bestehende Tätigkeitsfelder zu schaffen, nötigt die Einführung des Bachelor absurder Weise dazu, nun Tätigkeitsfelder für sinnlose, aber zwangsverordnete Abschlüsse zu erfinden.

Die Vergleichbarkeit verschiedener Studiengänge soll durch ein Punktesystem erreicht werden (1 »Credit« für 30 Arbeitsstunden). Dabei wird die Arbeitsbelastung für alle Hochschulen einheitlich auf 60 Credits pro Studienjahr, also 1.800 Arbeitsstunden festgelegt. Für schriftliche Abschlussarbeiten muss die Arbeitszeit (z.B. 600 Stunden) genau der Bearbeitungsdauer (also 15 Wochen á 40 Stunden) entsprechen. Es wird also davon ausgegangen, dass 1) der Arbeitsaufwand für jede inhaltliche Einheit genau errechenbar sei, dass 2) alle Studierenden für denselben Inhalt denselben Aufwand benötigen, dass 3) jeder Studierende in jedem Semester und alle Studierenden in allen Semestern genau gleichviel arbeiten müssen, und dass 4) diese Arbeitsleistung pro Semester für alle exakt gleichmäßig auf die Anzahl der Wochen zu verteilen sei. Uns erscheinen diese Voraussetzungen krankhaft.

• »Das ECTS (European Credit Transfer System) erfordert … die Einstufung [aller Absolventen] in die Gruppe A der 10 % besten, B der nächsten 25 %, C der nächsten 30%, D der nächsten 25 % oder E der nächsten 10%. Die ECTS-Regelung dient der Berechtigung zum Übertritt in eine weitere Studienphase an einer fremden Hochschule« (Loebell). Auch hier ist es erstens willkürlich anzunehmen, dass gleiche Leistungsgruppen an unterschiedlichen Hochschulen auch gleich leistungsstark seien. Ebenso willkürlich ist es zweitens, das Leistungsspektrum in fünf Klassen zu unterteilen: Sollte es in einem Jahrgang nur »sehr gute« Studierende geben, so müssten dennoch 10% von ihnen in die Klasse E aussortiert werden. Drittens muss der Kampf um die Plätze in den oberen Klassen und um die Übervorteilung der Konkurrenten ein Studienklima permanenter Konkurrenz und Asozialität schaffen – fragwürdige Qualitäten für einen angehenden Waldorflehrer.

Die Erfüllung der Akkreditierungsvorgaben muss extern evaluiert werden. Damit liefern sich die Hochschulen nicht nur vollständig der Gnade staatlich zertifizierter Akkreditierungsagenturen aus, sondern sie müssen diese auch noch finanzieren, was zu einer erheblichen Kostensteigerung führt, die möglicher Weise auf Dauer überhaupt nicht mehr oder aber nur unter Verzicht auf wirklich bildungsfördernde Ausgaben zu bewältigen sein wird. Loebell kommentiert die genannten Punkte zunächst durchaus kritisch, um dann mitzuteilen, man habe sich ins scheinbar Unvermeidliche gefügt: Die Stuttgarter Hochschulleitung … habe beschlossen, trotz »der erkennbaren Fülle widriger Umstände ihr Konzept der Klassen- und Fachlehrerausbildung im Wesentlichen unverändert akkreditieren zu lassen«. Zur Rechtfertigung muss herhalten, dass die »Geschichte der Waldorfpädagogik … von Anfang an eine Geschichte der Kompromisse« sei. Die kompromisslose Modularisierung ist aber kein Kompromiss, sondern die Totalkapitulation der Waldorfpädagogik vor dem ihr entgegengesetzten Impuls, unsere Zivilisation zu einer gigantischen Maschine umzugestalten (vgl. Steiner, GA 26). Der vollkommen nach mechanischen Prinzipien konstruierten Studienmaschine des Bologna-Prozesses wird die Waldorf-Pädagogik von ihren selbst ernannten Protagonisten bedenkenlos ausgeliefert; der Titel von Loebells Aufsatz »Waldorflehrerbildung im Bologna-Prozess« macht das sehr deutlich: Die Ausbildung von Waldorflehrern wird künftig der totalen Gleichschaltung des europäischen Hochschulwesens unterworfen sein. So fragt denn Loebell auch nur noch: »Wie können sich freie Hochschulen in dieses System einfügen?« Die Antwort hierauf kann nur lauten: Gar nicht, denn eine Hochschule als frei zu bezeichnen, deren Berechtigung vom Bestehen eines staatlich sanktionierten Akkreditierungsverfahrens abhängt, sollte doch ohne Mühe als absurd zu durchschauen sein. Nach Steiner hat die Waldorfschulbewegung aber »nur einen Sinn, wenn sie hineinwächst in ein freies Geistesleben«(GA 337b, 12.10.1920).Wird sie dem Bologna-Prozess unterworfen, verliert sie diesen Sinn. 

Literatur: Recht und Bildung Heft 4, Jg. 6 (Dezember 2009), http://www.institutifbb.de/9.html | Vgl. Rudolf Steiner: Anthroposophische Leitsätze, GA 26, Dornach 1989; | Rudolf Steiner: Soziale Ideen – soziale Wirklichkeit – soziale Praxis, Bd. 2, GA 337b, Vortrag vom 12.10.1920, Dornach 1999

Link:

Hochschulen für Waldorflehrer: Geburtstagsgeschenk für Rudolf Steiner? Eine Antwort von Richard Landl und Peter Loebell