Die stillen Revolutionäre

Linda Bläsi

Als heranwachsende Kinder des endenden 20. Jahrhunderts sehen wir, wie sich die Erwachsenen unter Burnout-fördernden Arbeitsbedingungen halb zu Tode schuften. Wir werden bedrängt, Lehrstellen zu suchen, perfekte Schulleistungen abzuliefern und »etwas aus unserem Leben zu machen«. Doch was heißt das? Immer mehr von uns widersetzen sich dem Druck, denn wir haben andere Vorstellungen über das, was uns wichtig ist: im Moment zu leben, zu lieben und eins zu sein mit allem. Unsere Rebellion gegen die Gesellschaftsstrukturen folgt einem unterbewussten Prinzip: Wir haben Probleme, machen deshalb der Gesellschaft Probleme, um auf ihr Problem aufmerksam zu machen. Wir sind die stillen Revolutionäre.

Der vermutlich wichtigste Schlüsselpunkt in der Heranformung einer Gesellschaft ist die Institution Schule. Dass das heutige Schulsystem eine radikale Reform benötigt, ist für uns offensichtlich. Bei der wachsenden Megazahl von »Problemkindern« wird man nicht mehr lange behaupten können, das Problem wurzle bei den Kindern selbst.

Wir ticken anders und wollen das auch

Thomas Stöckli geht in seinem Buch »Lebenslernen« direkt auf die in der Pädagogik involvierten Personen ein: Er interviewte Lehrer, Experten und zahlreiche Jugendliche über Jahre hinweg und erstellte aufgrund ihrer Bedürfnisäußerungen Lösungsvorschläge, nämlich ein neues Verständnis von Lernen überhaupt. Wie kann man die Bildungslandschaft so umformen, dass ein gesundes Heranwachsen der jungen Menschen möglich wird? Und vor allem: Was wollen die Jugendlichen selbst? Denn, wie es Stöckli ausdrückt: »Reformen sind nur dann möglich, wenn sie von den Beteiligten ausgehen oder von ihnen zumindest als sinnvoll erachtet und mitgestaltet werden.«

Wer sonst wird jemals etwas ändern, wenn nicht all die Millionen Problemkinder, die trotz schlechter Schulleistungen und Schulverweigerung an berufliche Spitzenpositionen gelangen, wo sie etwas bewirken könnten?

Da ist endlich mal ein Schulleiter, Lehrer, Erwachsener, der uns Jugendliche ernst nimmt, auch wenn wir vielleicht keine Hochleistungen bringen oder »Versager« sind. Denn »anstrengende« Kinder werden im Normalfall nicht ernst genommen; sie lernen nicht, sich mitzuteilen, weil Kinder und Jugendliche ihre Bedürfnisse nicht nur verbal, sondern vor allem in ihrem zunehmend problematischen Verhalten (zum Beispiel psychische Auffälligkeiten, Mobbing, Gewalt) äußern. Deshalb »wird die Gesellschaft gezwungen sein, als Antwort auf diese Probleme neue Lösungen zu suchen«. Dass ein Großteil der heutigen Jugendlichen »irgendwie« anders tickt, prallt meist an kaltem Unverständnis ab. Die Ursachen psychischer Jugenderkrankungen werden ignoriert, weil sie an den Grundfesten einer ganzen Gesellschaftsstruktur rütteln, die nicht so gesund ist, wie sie vorgibt.

Kinder und Jugendliche, die sich nicht anpassen, werden mit Medikamenten zum Schweigen gebracht. So entwickeln wir eine stille Resignation und unterdrücken wutgeladen unsere Energien, die die Lehrer und Therapeuten nicht richtig deuten können und mit allen möglichen Etiketten und Diagnosen versehen.

Wir wollen Lebendigkeit und Aktualität

Wir suchen etwas, worauf wir unsere Kräfte und Sensoren richten können, bekommen jedoch nur Matheformeln und Grammatiksätze vorgesetzt! Ein Ventil wird daher abseits der Schulzeit gesucht, in Partys, Shoppingtouren, Alkoholexzessen und der räuchernden Süsse aller möglichen Substanzen… Fakt ist, indem wir all dies tun, lernen wir die wichtigsten Lektionen, denn es sind Lektionen des Lebens: Wir lernen das Leben kennen, lernen, was es bedeutet, abzustürzen und Grenzerfahrungen zu machen. Wir erfahren eine Art von Realitätsgefühl, welches um all die langsam tickenden Schulstunden einen weiten Bogen zu machen scheint. Wir erwarten von der Schule nicht jeden Tag eine neue Art von buntester Primetime-Unterhaltung, doch wir wollen irgendwie das Gefühl von Aktualität und Lebendigkeit vorfinden.

Stöckli beschreibt im Buch diese Notwendigkeit der Entwicklung hin zu einer »lebensnäheren« Schule, in welcher die Schüler und das Lebensumfeld das Gelernte wirklich gebrauchen können. Als Beispiel dient ihm die Regionale Oberstufe Jura Südfuss (ROJ) in Solothurn. Zwei von fünf Schultagen verbringen die Schüler an externen Lernorten in Form eines Praktikums oder Projektes. Die in der Berufswelt gewonnenen Erfahrungen wechseln sich ab mit regulärem Schulunterricht und ermöglichen dem Schüler eine Symbiose zwischen Praxis und Theorie. Durch diese Art der Schulbildung erleben wir Schüler die Schule als einen lebendigen Ort, eine Lernstätte am Puls der Zeit.

Stöckli geht auch auf jenen Teil der Jugendlichen ein, die die Schule verweigern und ablehnen, weil sie aus purer Verzweiflung mit diesen Systemen nicht klarkommen und das Gefühl haben, innerlich zu ersticken. Denn: Unsere Herzen sind stumm, doch die Bleistifte schreiben brav weiter? – Die jetzige Generation macht es lieber anders rum: hohes Potenzial wird durch Frust ersetzt und dieser in Alkohol, Drogen und sonstiger Weltflucht erstickt.

Nicht bei uns läuft etwas falsch, sondern mit der Gesellschaft

Durch seine jahrzehntelangen Erfahrungen als Waldorflehrer und pädagogischer Praxisforscher stützt sich Thomas Stöckli auf die Gedanken und Gefühle Jugendlicher. Von diesem Blickpunkt aus kann er authentische Lösungsvorschläge für einen Schulwandel bieten. Durch Stöcklis Buch erhalten Eltern, Pädagogen und künftige Reformer Anreize zum Handeln. Als Jugendlicher selbst erfährt man die äußere Bestätigung, dass nicht mit einem selbst etwas falsch läuft,

sondern Schule und Gesellschaft eine Umstrukturierung benötigen. Stöckli ist es gelungen, dass die Jugendlichen in seinem Buch eine Plattform erhalten, zu Wort zu kommen und für die Millionen von Jugendlichen zu sprechen, welche bis zum Krankwerden unter den einengenden Systemen leiden. Er verschafft den »stillen Revolutionären« Gehör.

Literatur: Thomas Stöckli: Lebenslernen. Ein zukunftsfähiges Paradigma des Lernens als Antwort auf die Bedürfnisse heutiger Jugendlicher, Berlin 2011. Online-Version (Volltext-Download): http://opus.kobv.de/tuberlin/volltexte/2011/3051/