Event oder Ereignis. Ein Kommentar

Markus von Schwanenflügel

Ich gebe zu: Das wachsende Angebot erlebnispädagogischer Projekte und Serviceleistungen –besonders das für Schüler und Lehrer – ist mir suspekt. Natürlich sehe ich die Defizite in der schulpädagogischen Praxis: zu wenig Bewegung, zu wenig Elementarerfahrung, zu geringe Erlebnisintensität … und doch – puristisch wie ich bin: So wenig ich für mich selbst eine Pauschalreise mit Animation buchen würde oder wir es für unsere Kinder getan haben, hätte ich es für eine »meiner« Klassen getan.

Als ich mich nun letztens im Lehrerzimmer darüber mokierte, dass wieder einmal ein »junger Kollege« eine solche All-Inclusive-Abenteuerreise zum Abschluss seiner achten Klasse bei »Turbo-Event« in Düsseldorf gebucht hatte, raunzte mich eine Kollegin, die mich schon länger kennt, von der Seite an: »Es kann ja nicht jeder seine Initiation bei den Pfadfindern erfahren haben!« Recht hatte sie und ich merkte, wie unfair meine Bemerkung gewesen war. Denn tatsächlich hatte ich bei den verschiedenen Projekten und vor allem Reisen mit unseren Kindern und mit »meinen« Klassen von einem reichen Schatz in der Jugend erworbener Fähigkeiten profitieren können. Über zehn Jahre war ich als Schüler an vielen Wochenenden und in fast allen Ferien mit anderen Jugendlichen »auf Fahrt« gegangen, mit Affen (Tornister mit Kuhfell), Hordentopf, Kohte (Gruppenzelt, in dem man Feuer machen kann), Kochgeschirr und Feuerbein (Holzstück, aus dem man trockene Spänchen machen kann, um auch bei Dauerregen ohne Papier das Feuer entfachen zu können) …

Zum Beispiel 1965: Knappe vier Wochen Schwäbische Alb: acht Jungen zwischen neun und vierzehn Jahren tippelten von Rottweil über Sigmaringen und Blaubeuren nach Ulm, oft unter sengender Sonne, manchmal schon bei Sonnenaufgang, manchmal nachts, gekocht wurde am Wegrand, die Strümpfe wurden im Bach gewaschen, »gepennt« wurde in die Zeltbahn eingerollt am Waldrand, beim Bauern in der Scheune oder eben in der Kohte … Telefonieren war verpönt (nur mit meiner jetzigen Frau habe ich damals schon heimlich telefoniert), Handy gab es ohnehin nicht, Post gab es postlagernd dreimal während dieser Zeit. Zum Abschluss haben wir uns im Ulmer Münster in Sonntagskluft (weiße »Toga«, weiße Socken) vor den Altar gestellt und unsere am Lagerfeuer geübten mehrstimmigen »heiligen« Lieder »geschallert« und wurden prompt von einem älteren Ehepaar in eine Pizzeria eingeladen.  … Als ich daheim meine Klamotten ausgepackt hatte, hat meine Mutter wahrscheinlich, wie so oft wenn ich von einer Fahrt nach Hause kam, die Nase gerümpft: »Die ganze Wohnung riecht mal wieder nach Katenschinken!«

Diese Fahrten waren Abenteuer pur und gleichzeitig ein ausgezeichnetes Training, um mit einer Gruppe auch in scheinbar ausweglosen Situationen physisch und vor allem mental überleben zu können. Meine nette Kollegin hatte also wirklich Recht. Und doch ließ mir die kleine Episode keine Ruhe, denn natürlich hat meine Abneigung gegenüber den im Laufe der Jahre immer aufwändigeren Angeboten einmaliger käuflicher Erlebnisse einen harten, pädagogisch begründeten Kern. Das Bedürfnis war geweckt, mein eigentliches Anliegen so zu formulieren, dass es ver­standen werden kann. Ich begann zu überlegen, was denn die Bedingungen dafür sind, dass ein Erlebnis zu einem pädagogisch fruchtbaren Ereignis, zu etwas wirklich Eigenem werden kann?

Ich habe gemerkt, dass unter diesem »erlebnispädago­gischen« Aspekt drei Qualitäten für den Unterschied zwischen guten und nicht so guten schulischen Projekten ausschlaggebend sind:

1 Was ist der Unterschied zwischen der von der Großmutter für ihr Enkelkind aus alten Stoffresten selbst genähten Puppe und der im Spielwarenladen gekauften? Das schwer zu beschreibende besondere Erlebnis, das das Kind, die Großmutter und die Puppe miteinander haben! Sieht man die Beziehung zwischen Klassenlehrer oder Klassenbetreuer und seiner Klasse als wesentlich an, so kann man aus diesem Vergleich lernen, dass eine nicht so vollkommene, dafür aber vom Klassenlehrer selbst für seine Klasse vorbereitete und gestaltete Klassenreise ihren besonderen Erlebniswert hat – so wie die von mir selbst an die Tafel gezeichnete Dampfmaschine bekanntlich besser ist als die perfekte Reproduktion. Letztlich motiviert meine Bemühung die Schüler, sich auch zu mühen.

2 Was ist der Unterschied zwischen einem Projekt, zum Beispiel einer Bergwanderung, die ein Führer, der den Weg kennt, mit einer Klasse macht, bei der der Lehrer »entspannt« mitläuft oder gar auf der Hütte bleibt, um Zeugnisse zu schreiben, und einer Nachtwanderung, die eine Klasse mit ihrem Klassenlehrer macht, der sich dabei eventuell sogar verirrt und bei der dann ein Schüler den Heimweg findet? – Genau: das Erlebnis! Einmal ist es eher ein aufregendes Event, das andere Mal ein echtes – äußerlich eventuell nicht so spektakuläres – einmaliges Abenteuer.

3 Das wichtigste Erlebnis aber, das Schüler in der Schule haben sollten, ist das Erlebnis, etwas zu lernen, das Erlebnis, dass man sich durch Üben weiterentwickeln kann und dass das glücklich macht. Der Schüler bemerkt, dass er durch sich selbst größer werden kann … Gerade die besondere Situation einer Klassenfahrt kann genutzt werden, um mit den Schülern – was auch immer – zu lernen und zu üben. Astro­nomie, Schnitzen, Jonglieren, Schauspiel … Auch wenn es manchmal nicht so aussieht: Schüler wollen von ihren Lehrern nicht beschäftigt werden, sie wollen etwas lernen.

Nochmals etwas anders formuliert und zusammengefasst:

Möglichst viel selbst planen und machen, individuell und persönlich. Möglichst die beteiligten verantwortlichen Menschen für die und mit den beteiligten Schülern!

Echtes einmaliges Abenteuer ermöglichen und möglichst wenig Event anbieten!

Möglichst viel üben und lernen!

Damit sind drei Merkmale von Projekten und drei not­wendige Bedingungen für ihre Vorbereitung benannt, um die Chance zu erhöhen, dass sich in die Tiefe gehendes Erleben ereignen kann, nicht muss – mehr kann und sollte man nicht wollen.

Ich bin so kühn zu behaupten, dass ich die Gegenargumente, die im Einzelfall alle richtig und triftig sein können, kenne: Überlastung der Lehrer, fehlende Vorbereitungszeit, zu gefährlich, fehlende Qualifikation und Professionalität, zu viel Stress … Auch weiß ich, dass bei vielen Angeboten genau die von mir genannten Gesichtspunkte berücksichtigt werden sollen und oft auch mit großem Einsatz und Einfühlungsvermögen berücksichtigt werden. Und doch denke ich, dass es sich lohnen könnte, sich an den hier ja nur skizzierten Kriterien als Leitideen bei der Planung und Durchführung des nächsten Projektes zu orientieren. Oder eben – falls notwendig – bei der Auswahl aus den im Lehrerzimmer ausliegenden attrak­tiven Prospekten.

Zum Autor: Dr. Markus von Schwanenflügel, Jahrgang 1960, Studium der Mathematik und Physik, 30 Jahre Oberstufenlehrer, zunaächst an der Rudolf-Steiner-Schule Bochum, später an der Windrather Talschule; seit zwölf Jahren »außerdem« Aufbau des Jugendhof Naatsaku (www.naatsaku.de) in Estland; verheiratet, vier Kinder.