Halb geht nicht

Eine erfahrene Waldorfschullehrerin sagte mir einmal, dass die Kinder heute nicht mehr so »rund« und »rotbackig« seien wie früher. Heute seien sie eher groß gewachsen, schlank und manchmal auch ein bisschen blass. Rudolf Steiner wies schon damals auf diese Merkmale hin. Diese Entwicklung stellt den Lehrer vor besondere Herausforderungen und es bedarf besonderer pädagogischer Fähigkeiten. Zum Teil sind diese Fähigkeiten schon in die Wiege gelegt worden, weit mehr aber müssen sie in einem intensiven Studium geweckt und entwickelt werden.

Viele Menschen sind in ihrem Beruf heute unzufrieden und innerlich unerfüllt. Oder die Kinder sind jetzt größer oder aus dem Haus und man möchte wieder in einen Beruf voll einsteigen. Waldorflehrer werden wäre eine Option: Man hätte mit Kindern zu tun, hätte freie Gestaltungsräume, nicht zu vergessen Ferien und Gehalt. Doch sind das ausreichende Beweggründe? Wer Waldorflehrer ist, muss es aus Überzeugung tun. Zentral ist die Anthroposophie. Was Rudolf Steiner in seiner Zeit erkannt hat, trifft heute noch zu und teilweise mehr denn je. Ist das allen Waldorfschullehrern bewusst? Haben sie mehr als sich anthroposophisches Wissen angeeignet? Sind sie begeistert von der Anthroposophie? Die Waldorfschulen müssen heute mehr denn je diese innere Leuchtkraft ausstrahlen, um nicht im Sog der Vereinheitlichung unterzugehen.

Jeder Lehrer sollte sich Rechenschaft darüber ablegen, ob er wirklich Waldorflehrer werden will und er methodisch-didaktisch in diesem Sinne unterrichtet. Waldorflehrersein bedeutet nicht, die anthroposophische Tür aufzumachen, wenn man das Gelände der Schule betritt, und beim Verlassen die Tür zuzumachen. Für einen Waldorflehrer ist die Anthroposophie beruflich und privat von Bedeutung. Halb geht nicht. Als Waldorflehrer ist man in erster Linie nicht Geldverdiener, sondern Menschenbildner.

Fabian Heugen, ehemaliger Waldorfschüler und Schülervater