Im Namen Jeanne d’Arcs

Valeria Risi

Es klingelt ein Mal, zwei Mal, drei Mal. Dann meldet sich am anderen Ende der Leitung, am anderen Ende der Welt, eine freundliche Männerstimme: »Juana-de-Arco-Schule, wie kann ich Dir helfen?« Ich stelle mich vor und einige Monate später stehe ich, an einem Samstag im Dezember, im kleinen Schulhof der Waldorfschule Juana de Arco, im Stadtteil Villa Crespo, mitten in der argentinischen Hauptstadt Buenos Aires. Ich wollte herausfinden, was Waldorf heute in Argentinien bedeutet – 10.000 Kilometer vom Ursprungsort entfernt und 100 Jahre, nachdem Rudolf Steiner die erste Schule gründete.

2018 starteten die Englischlehrerin der 7. Klasse der Freien Waldorfschule Sankt Augustin und ihr Pendant aus der Juana de Arco-Schule in Buenos Aires eine Brieffreundschaft zwischen ihren beiden Klassen. So entstand auch meine erste Verbindung zur Schule in Buenos Aires. Dass mir Land und Leute dort vertraut sind, machte die weitere Kommunikation noch viel einfacher und der Umstand, dass wir aus familiären Gründen zum Jahresende dorthin reisen mussten, fügte sich perfekt ein.

Neugierig und mit dem Kopf voller Fragen komme ich in der argentinischen Waldorfschule an – zufälligerweise am Tag des Adventsbasars. Kinder flitzen herum, die Sonne scheint und es herrschen sommerliche 25 Grad. Die Stimmung ist gelöst, die Menschen freundlich. Auf dem kleinen Innenhof und in einigen Klassenräumen werden Kuchen, Getränke, Schmuck, Stofftiere, Badehosen und Sommerblusen verkauft. Ich komme ins Gespräch mit Josué, einem jungen Lehrer, der mir von der Krux erzählt, im Hochsommer mitteleuropäisches Brauchtum zu pflegen. 

Wohl nicht nur in Argentinien, sondern in vielen Waldorfschulen der südlichen Erdhalbkugel wird über eine gewisse »Germanität« der Waldorfpädagogik diskutiert. Josué und seine Kollegen versuchen, insbesondere die christlichen Feiern ein wenig der Realität und dem Klima der Südhalbkugel anzupassen. Das erklärt, warum der Adventsbasar eher wie ein lockerer Kunstmarkt anmutet und eine besinnliche Vorweihnachtsstimmung nicht so richtig aufkommen mag. 

Das wichtigste Fest an der Juana-de-Arco-Schule ist ohnehin die Frühlingskirmes, zu der Aufgaben in den Klassen verteilt werden, ähnlich wie bei uns zum Basar. Gleichzeitig versucht die Schule auch die Traditionen des eigenen Landes zu würdigen und feiert am 1. August den Tag der pachamama, der Mutter Erde – einer Göttin, die heute noch von vielen indigenen Bevölkerungsgruppen Lateinamerikas verehrt wird.

Eine starke Frau als Namensgeberin und Inspiration

Die Juana-de-Arco-Schule ist eine von zehn Schulen in Argentinien, die sich der Waldorfpädagogik verschrieben haben. Hinzu kommen rund 20 weitere, die teilweise mit dem Waldorfkonzept arbeiten. Die meisten Einrichtungen befinden sich entweder im Landesinneren oder im Ballungsraum der Hauptstadt, dem sogenannten Gran Buenos Aires. In diesem Großraum leben an die 13 Millionen Menschen, fast drei Millionen davon in der eigentlichen Hauptstadt. Die erste Waldorfschule, das Colegio Rudolf Steiner, entstand 1940 in der Ortschaft Florida, in eben diesem Ballungsraum.

Es verging jedoch mehr als ein halbes Jahrhundert, bis es möglich war, auch mitten in der Hauptstadt eine Waldorfschule zu besuchen. Dazwischen lagen Jahrzehnte voller politischer Unruhen, finanzieller Krisen, wiederholter Putsche, einer brutalen Militärdiktatur, der Krieg um die Falklandinseln und schließlich, 1983, die Rückkehr zur Demokratie.

Die Entstehung der urbansten aller argentinischen Waldorfschulen ist einer Gruppe engagierter Eltern und Lehrer zu verdanken. Sie wünschten sich für ihre Kinder eine Bildungseinrichtung, die ihren ethisch-religiösen und philosophischen Werten entsprach und gründeten dafür die Stiftung Alanus Ab Insulis. Im Jahr 1995 erhielten sie ein Wohnhaus als Spende und starteten dort zunächst als reiner Kindergarten Juana de Arco, mit zwölf Kindern. Die berühmte Namensgeberin Juana de Arco (Jeanne d’Arc), wird als Vorbild verstanden – »sie verkörpert einen jungen Menschen mit starken Idealen« – so erklärt es die Schule auf ihrer Homepage.

Anscheinend hat die Namenswahl geholfen. Denn die Schule wuchs weiter und schon wenige Jahre später, 1999, wurde das Nachbarhaus angemietet und die Einrichtung auch auf den Grundschulbereich erweitert, der in Argentinien die ersten sieben Klassen umfasst. Maßgeblich 

verantwortlich für diesen Erfolg waren die Eltern von »Kindern mit besonderen Fähigkeiten«, wie man in Lateinamerika Schüler mit Förderbedarf nennt.

»Wir möchten alle Unterschiede akzeptieren«

Diese Familien hatten während der Kindergartenzeit festgestellt, wie positiv sich die Waldorfpädagogik auf die 

Entwicklung ihrer Kinder auswirkte. Das hat sich herumgesprochen. Gut die Hälfte der Anfragen für Grundschulplätze kommt heute von von solchen Familien, wie mir die pädagogische Sekretärin der Schule, Soledad Garzón, im Gespräch erklärt: »Dazu gehören Kinder mit motorischen, sprachlichen oder neurologischen Herausforderungen, wie auch solche, die aufgrund sozialer Schwierigkeiten die Schule wechseln müssen.« Ich erfahre, dass die Inklusion in Argentinien bereits seit zwölf Jahren im Bildungsgesetz verankert ist. Das bedeutet konkret für die Juana-de-Arco-Schule, dass es pro Klasse zwei Integrationskinder gibt. Zum Klassenlehrer kommen noch ein bis zwei Sonder­-­pädagogen. Das Sozialamt muss entweder das Schulgeld für das Kind übernehmen oder die Integrationslehrkraft bezahlen.

Das Inklusionsgesetz stellt die Schule aber durchaus auch vor Heraus­forderungen. Während bis vor Kurzem eine Einschulung mit sieben Jahren noch möglich war, müssen heute alle Kinder im Jahr ihres sechsten Geburtstages eingeschult werden. Es soll schließlich kein Kind aufgrund einer Beeinträchtigung benachteiligt werden. Ein guter 

Gedanke, der aber zugleich die Berücksichtigung der individuellen Entwicklung von Kindern erschwert. Soledad sieht Argentinien dennoch in Sachen Inklusion grundsätzlich auf einem guten Weg. Sie möchte alle Kinder einbeziehen, egal, ob mit oder ohne spezifische Diagnose: »Für diejenigen, die keine Integrationslehrkraft an ihrer Seite benötigen, passen wir die Inhalte und Methoden entsprechend an, was eine sehr hohe Anforderung an uns 

als Schule bedeutet« – eine Fleißarbeit oder in Garzóns Worten: trabajo de hormiga – »arbeiten wie die Ameisen«.

Wer entscheidet sich in Argentinien für eine Waldorfschule?

Die Schülerschaft lässt sich in drei große Gruppen einteilen: »Zum einen, diejenigen, die sich für unsere Schule entscheiden, weil sie selbst Waldorfschüler waren oder auf einer persönlichen Suche sind, die sie zu uns führt. Zum anderen, diejenigen, die von medizinischer Seite zu uns verwiesen wurden, aufgrund psychologischer oder neurologischer Empfehlungen. Im ganzen Gesundheitsbereich sind Waldorfschulen für ihre erfolgreiche Integrationsarbeit 

bekannt«, erzählt Soledad. »Die dritte und kleinste Gruppe besteht aus den Eltern, die ohne große Kenntnisse über die Waldorfpädagogik zu uns stoßen, auf der Suche nach einer Alternative für ihre Kinder, die im traditionellen Schulsystem nicht glücklich sind«.

Um innerhalb des Bildungssystems anerkannt zu sein und Zeugnisse ausstellen zu können, gelten in Argentinien alle Schulen als öffentlich und unterscheiden sich nur darin, ob sie privat oder öffentlich geführt werden. Waldorfschulen werden nicht staatlich bezuschusst, was für Soledad keinen Nachteil bedeutet, denn »wenn der Staat bezuschusst, dann bestimmt er auch mit. Zu unserem Verständnis gehört aber, dass Eltern und Kollegium die treibende Kraft unserer Schulgemeinschaft sein müssen«.

Neben Spenden, Benefizkonzerten, Basaren und Märkten erzielt die Juana-de-Arco-Schule ihre Einnahmen hauptsächlich über das monatliche Schulgeld. Ursprünglich wurde den Familien ein Betrag empfohlen. Dann hat man versucht, mit dem zu arbeiten, was jeder tatsächlich leisten konnte. Inzwischen gibt es zwar einen festgelegten Mindestbeitrag, der Finanzkreis versucht aber Lösungen innerhalb der Schulgemeinschaft zu finden, um die Familien mit geringeren finanziellen Mitteln zu entlasten. Aktuell ist die Gebühr für den Kindergarten und die Schule dieselbe und beträgt monatlich vier Fünftel des Mindestlohnes. Nimmt man die aktuelle Inflation von weit mehr als 40 Prozent hinzu, stellt dies einen Betrag dar, den sich nur wenige leisten können.

Gartenbau im Großstadtdschungel

»Hacemos magia« – »wir zaubern«, sagt Soledad, als ich sie frage, wie sie Gartenbau ganz ohne Schulgarten unterrichten. Einmal im Monat fahren die unteren Klassen mit dem Bus zu einem großen Park. Bei den Entfernungen in dieser Riesenmetropole ist das ein Tagesausflug. Gartenbauunterricht gibt es trotzdem jede Woche, dank stapelbarer und rollender Beete: Holzkästen, befüllt mit Erde und bepflanzt mit allem, was die Natur hergibt oder die Gartenbaulehrer gerade parat haben.

Auch bei der Gestaltung des Stundenplans muss gezaubert werden, um Platz für 270 Schüler zu schaffen. Also teilt man sich die Räume und die Zeit: Von 8 bis 13 Uhr besuchen Kindergarten- und Grundschulkinder die Einrichtung. Außerdem gibt es am Nachmittag für alle Klassen außerschulische Angebote, wie Englisch, Theater oder Instrumentalunterricht. Kleine Aufführungen aus dem Unterricht werden – mangels Aula – oft auf dem Schulhof, unter freiem Himmel gezeigt. Die Mittel- und Oberstufe, also die Schüler ab der 8. Klasse aufwärts, werden von 13 bis 18:15 Uhr unterrichtet. Für viele ist der Nachmittagsbetrieb aber nicht mit dem Familienleben zu vereinbaren. So kommt es, dass nach der 7. Klasse gut die Hälfte der Schüler auf eine andere Schule wechselt. Um das zu vermeiden, würde die Juana-de-Arco-Schule am liebsten noch ein weiteres Gebäude dazu kaufen oder mieten, wofür sie aber nicht die nötigen Mittel hat. Sie hofft nun auf die Hilfe eines Mäzens oder einer ausländischen Stiftung.

Unterstützung bräuchte die Schule auch dringend, um endlich wieder Eurythmie-Unterricht anbieten zu können. Die wenigen in Argentinien ausgebildeten Eurythmisten sind einfach zu gefragt. »Vielleicht reizt es ja jemanden aus Europa, mal für ein Jahr zu uns zu kommen, um unser Kollegium zu verstärken und weiterzubilden?«, fragt sich Soledad.

»Bueno, bello y verdadero …«

2019 wird zum ersten Mal eine Klasse der Juana-de-Arco-Schule den kompletten zwölfjährigen Zyklus durchlaufen haben. Trotz erschwerter Bedingungen werden 15 Schüler Ende des Jahres ihr Abitur ablegen. Eine große Leistung, auf die Soledad und ihr Team zu Recht stolz sind. Ihr Erfolgsgeheimnis beschreibt sie so: »Wir arbeiten mit dem, was wir zur Verfügung haben, um etwas Gutes, Schönes und Wahrhaftiges zu erreichen – algo bueno, bello y verdadero«.

Die Thermoskanne mit heißem Wasser für den Mate-Tee ist fast leer und Soledad muss weiterarbeiten. Beim Abschied zeige ich ihr noch das Jahrbuch unserer Schule. Sie wundert sich, dass die Schule offen und von der Straße aus erreichbar ist, ganz ohne Tore oder Zäune. So etwas wäre in Argentinien völlig undenkbar.

13 Uhr, es läutet zum Schulschluss. Auf dem Bürgersteig, vor der Eingangstür, knubbeln sich inzwischen die Eltern. Die Klassen kommen nacheinander heraus, begleitet von ihren jeweiligen Lehrern. Der Umgang ist herzlich. Die Kinder duzen die Erwachsenen, umarmen sie und bekommen noch einen Kuss vom Klassenlehrer auf die Wange gedrückt, bevor Mutter, Vater oder Oma sie in Empfang nehmen. Für die Einen geht der Schultag an der Juana-de-Arco-Waldorfschule zu Ende, für die Anderen beginnt er gerade erst.

Zur Autorin: Valeria Risi ist freiberufliche Journalistin, TV-Moderatorin und Schülermutter an der Freien Waldorfschule Sankt Augustin.