Kinder brauchen ein Privatleben!

Susanne Bregenzer

Die Schuhe fallen von den Füßen, die Kleider hinterher.

»Wir brauchen einen Eimer Wasser.« Wird geliefert: nach draußen, in den sonnigen Garten. Drei splitterfasernackte Jungen springen lachend durch eine Pfütze auf der Terrasse.

»Wir mischen Gift«. Emsig zerstampfen sie Straßenmalkreide und lösen sie im Wasser auf. Bald sind alle drei Buben nicht mehr nackt, sondern wunderschön körperbemalt, versunken im Spiel, gewärmt von der Sonne … denn sie haben jetzt frei. Frei, das heißt ja, sie werden jetzt nichts lernen. Oder? Sie werden einfach so in den Tag leben und spielen.

Und die Aufgaben? Die Schule? Die Förderung? Was soll denn aus ihnen werden? Sie müssen doch Lesen, Stifthaltung, Rechnen üben? Sie müssen das S richtig zischeln und ihre Hand-Auge-Koordination ordnungsgemäß ausführen? Oder?

Wäre es nicht viel wichtiger, dass sie ihren Tag lernend unter Altersgenossen verbringen? Es geht schließlich um das spätere Leben! Sie sollen doch mal Erfolg haben und glücklich sein. Später! Außerdem sollten sie an Sportprogrammen teilnehmen, ihre Ernährung selbst überprüfen und ihren Körper ertüchtigen, damit sie gesund, sportlich smart, fit und tough werden und ihnen alle beruflichen Chancen offen stehen. Um die Vereinbarkeit von Beruf und Familie zu gewährleisten, schlagen Politiker jetzt die 24-Stunden-Kita vor. Die Ganztagsschule ist im Anmarsch. »Gehst du immer noch nicht arbeiten?«, werde ich öfters gefragt. »Nein, ich gehe nicht. Aber ich arbeite. Jeden Tag. Und in der Nacht. Immer!«

Und wofür arbeite ich? – Dafür, dass meine Kinder ein Privatleben haben dürfen. Denn jeder Mensch braucht ein Privatleben. Und besonders die Kleinen brauchen noch mehr davon: Privat. Und Leben.

Aber was heißt das eigentlich? – Der Duden spuckt folgende Erklärung für das Wort »Privat« aus:

• eigen, individuell, persönlich; (verstärkend) ureigen

• familiär, intim, persönlich, ungezwungen, vertraut, zwangslos

• außerdienstlich, inoffiziell, nicht amtlich / dienstlich / geschäftlich / offiziell, persönlich, unter vier Augen, vertraulich; (bildungssprachlich) privatim

• der Öffentlichkeit nicht zugänglich, nicht für alle / nicht für die Öffentlichkeit bestimmt, nicht öffentlich

• nicht staatlich.

Genau. Privat heißt, nicht dienstlich und geschäftlich, nicht für die Öffentlichkeit bestimmt. Sondern eigen. Nur für diese drei Brüder, die sich jetzt gegenseitig mit der Spritzpistole abwaschen und laut kreischend durch den Garten sausen, frei haben, einfach Mensch sind, einfach sie selbst sind. Wenn Politiker von einer Kitapflicht sprechen, werde ich wütend. Das bedeutet, dass Kinder zu Hause nicht genügend gefördert werden?

Dass sie etwas verpassen? Aber müssen wir nicht viel eher darüber nachdenken, wie wenig wir darüber wissen, was unsere Kinder wirklich in der Zukunft können müssen? Dass wir keine allwissenden Götter sind, die voraussehen, was unsere Kinder lernen sollen?

Viel mehr wissen sie selbst darüber Bescheid. Nicht bewusst, nicht, wenn man sie fragt. Aber mit ihrem inneren Wissen. Und dieses Wissen wird im freien, tiefen Spiel freigesetzt. Wenn sie ins freie Spiel eintauchen, verarbeiten sie ihr Leben, sie erarbeiten sich selbst das, was sie brauchen, um mit ihrer Lebenswirklichkeit klar zu kommen: Jetzt. Heute!

Im tiefen Spiel können sie schon längst alles das, was wir für sie minutiös planen. Und sie können auch all das, was wir nicht für sie planen, was sie aber trotzdem brauchen, um stark, selbstbewusst und resilient in ihr Leben zu gehen. Resilienz bedeutet, mit Rückschlägen, Schwierigkeiten und krankmachenden Umständen umzugehen, klarzukommen und nicht davon zerstört zu werden.

Und was braucht das Kind für sein Spiel? Zeit! Diesen Nachmittag mit nichts vor sich. Nichts, außer der Tatsache, dass es irgendwann Abend werden könnte. Wenn mein Großer bei Freunden zu Besuch war (nach der Schule), dann kommt er heim und will spielen. »Aber jetzt ist es schon Abend und Bettzeit«, sage ich. Da schimpft er und sagt: »Aber ich hatte doch überhaupt keine Zeit!«

Je mehr Termine, Erledigungen, Arztbesuche, Verabredungen in diese freie Zeit hineinfunken, desto weniger kann das Spiel wachsen. Das freie Spiel braucht auch diese Leere, dieses Nichts vor dem Spiel, die Langweile. Ein Kind, das sich vor lauter Langweile im Kreis auf dem Boden dreht, wird bald spielen – sicher. Wir müssen es nur aushalten.

Und es braucht Raum. Es muss kein Fußballfeld sein! Raum, in dem es sein darf. In dem es einen Stuhl umdrehen darf und mit einer Decke eine Höhle bauen kann. In dem es nicht tausend Vasen gibt, die umkippen könnten und keine Setzkästen mit filigranen Heilig­-

tümern. Ein Raum, der »Ja, du darfst hier Kind sein« sagt. Deshalb sind Kinder draußen oft so viel ausgeglichener und leichter im Spiel. Denn die Natur sagt gerne »Ja« zu einem Kind. Mehr, als die erwachsenengemachten Innenräume. Draußen kann ein Stock auch ein Pferd, ein Drachen, ja auch ein Gewehr werden, ohne dass jemand sagt: »Pass auf, der geht kaputt!«

Und es braucht Sicherheit. Wenn ich unsere Hühner beobachte, suchen vier immer nach Futter und der Hahn behält den Überblick. Er bewacht sie. Für den Hahn ist die Aufgabe angemessen. Für ein Kind ist sie spielverhindernd. Wenn also die Bindungsperson fehlt, zu viel emotionale Unsicherheit herrscht und das Kind in die Lage kommt, sich ständig selbst (und am besten noch andere Anwesende) bewachen zu müssen, kann es nicht spielen. Denn, um versinken, in eine Phantasiewelt eintauchen zu können, die Therapeut, Lehrer, Rettungsanker und Förderer zugleich sein kann, braucht ein Kind eine Welt um sich, die wenigstens für diese Zeit im Lot ist.

Dies sind die drei Faktoren, die zum »Spiel aus der Tiefe« (Marie Luise Nüesch) führen: Zeit, Raum und Bindung. Und obwohl ich schreibe, dass die Spielwelt Therapeut, Lehrer, Rettungsanker und Förderer ist, müssen wir Erwachsene unsere manipulierenden Finger davon lassen, dieses Spiel zu »benutzen«, um unsere Förderprogramme durch »pädagogisch wertvolles Spiel« aufzupeppen. Wir müssen uns von der fixen Vorstellung verabschieden, Glück »für Später« anlegen zu wollen. Wir können es nicht auf einer Bank parken und später abholen. Unsere Kinder sind jetzt glücklich – oder gar nicht.

Wir alle brauchen einen Ort, an dem wir selbst sein können. An dem wir gut sind, wie wir sind. An dem es nicht um Leistung geht. An dem die Pisa-Studie nichts zu melden hat und an dem wir – gerade deshalb – lernen dürfen.

Zur Autorin: Susanne Bregenzer ist ehemalige Waldorfschülerin an der Waldorfschule Rengoldshausen, ausgebildete Jugend-Heimerzieherin, dreifache Mutter in Elternzeit und Elternbloggerin bei https://familienuniversum.de/