Plädoyer für ein freies Bildungswesen

Albert Vinzens

»Ich lebe in Europa, ich bin für von Hentig – das ist ganz einfach.« So lautete die Antwort einer Professorin für Erziehungswissenschaften an der Universität Kassel, als sie vor einem Jahr von einer Diplomandin gefragt wurde, ob sie für Ivan Illich sei, der sich für die Abschaffung des Schulsystems eingesetzt hat, oder ob sie Hartmut van Hentig bevorzuge, der die Schule von ihrem negativen Makel der Verschultheit befreien, ihren institutionellen Charakter hingegen beibehalten wollte.

Die Haltung der Professorin ist in Europa immer noch weit verbreitet. Dass es inzwischen, auch an Universitäten, andere Reaktionen auf diese Frage gibt, beweist das akademische Gutachten, welches der Diplomarbeit Menschenbildung in einer globalisierten Welt von Clara Steinkellner an der Universität Wien ausgestellt wurde. Inzwischen als Buch erschienen, geht diese Arbeit über die Ideen van Hentigs hinaus und setzt da an, wo Illich und Gustavo Esteva, und lange vor ihnen schon Pestalozzi, Wilhelm von Humboldt, Max Stirner, Lew Tolstoi, und Rudolf Steiner eine entstaatlichte, zweckfreie und menschenwürdige Bildung etablieren wollten. Den Genannten und einigen weiteren Protagonisten eines freien, selbstverwalteten Schulwesens widmet Steinkellner prägnante biografische Skizzen.

Was Theodor Paur vor der Revolutionsversammlung 1848 in der Frankfurter Paulskirche mit Begeisterung verkündete, klingt wie ein Motto für die den gegenwärtigen Bildungsdiskurs weiterführende Arbeit der Autorin: »Die Schule, wenn sie ihren Zweck erfüllen soll, muss den Menschen frei aus der Urquelle heraus entwickeln, ehe er in seinem Geiste, seinem Leben lebendig fühlt. Soll die Schule dieses Ziel erreichen, so muss sie in einer freien Lebensatmosphäre atmen dürfen, die frei ist von jedem Nützlichkeitsprinzip, die frei ist von einem kirchlichen Prinzip und frei ist von einem vorausgestellten staatlichen. Das Erziehungswerk und das Unterrichtswesen, wenn sie richtig aufgefasst werden, haben einzig und allein Grund und Boden, dass der Lehrer im Stande ist, sein frei entwickeltes inneres Selbst der Jugend vorzuführen. In diesem Sinne wünsche ich, dass die Schule in einer reinen Lebensatmosphäre erhalten werde. Wenn sie die Freiheit des Volkes wollen, schaffen Sie in diesem Sinne freie Schulen«.

Die Autorin versteht es, die klassischen Vertreter eines freiheitlichen Bildungsbegriffs liebevoll aus ihrem historischen Kontext wachzuküssen. Im ersten Teil des Buches wird Bildung als »Sache des Individuums« (Pestalozzi) beschrieben, das sich in »Mannigfaltigkeit und Tätigkeit« (W. v. Humboldt) für das Leben rüstet. Bildung ist anarchische »restlose Selbstbestimmung der Individualität« (Stirner). Wird der Selbstentwicklungsanteil des sich bildenden Menschen erkannt und geachtet, greifen Erzieherinnen und Lehrer nicht länger reglementierend in den Bildungsprozess ein - weil wir nicht davon ausgehen können, »dass ein Mensch wissen kann, was ein Mensch wissen muss« (Tolstoi). Vielmehr kümmern sie sich darum, dass sie die »günstigste Umgebung abgeben« (Steiner), indem sie Freude verbreiten. Wo der Andere nicht als dressierbares Geschöpf, sondern als Schöpfer aufgefasst wird, findet Bildung statt. Steinkellner: »Bildung ist mehr als die nachprüfbare Aneignung von Fertigkeiten, Bildung ist ein individueller, irreversibler Prozess«.

In einer nirgends den Rahmen akademischer Verbindlichkeit sprengenden Weise werden manchmal erstaunliche, immer aber begeisternde und entwaffnende Zitate auf die Bühne der Bildungsdebatte geholt und in globale Denkzusammenhänge gestellt. Die Selektionsmechanismen und Standardisierungstendenzen von wirtschaftlicher und staatlicher Seite werden in ihren erschreckenden Einseitigkeiten erfasst, beleuchtet und hinterfragt. Dennoch verbreitet das Buch nicht Angst oder Wut. Vielmehr macht es Mut zur Veränderung.

Im Schlussteil kommen handlungsorientierte Sichtweisen hinzu. Die Ressourcen zivilgesellschaftlicher Vernetzung werden auf die Frage selbstverwalteter, global organisierter Bildung bezogen. Dabei wird nicht nur das weltweit etablierte westliche Schulsystem, sondern auch das Universitätsleben auf neue Fundamente gestellt, so dass »die Wirklichkeit von ihren Grundkräften des Werdens her« (Otto Scharmer) erfasst werden kann.

Clara Steinkellner: Menschenbildung in einer globalisierten Welt - Perspektiven einer zivilgesellschaftlichen Selbstverwaltung unserer Bildungsräume. Verlag Edition Immanente, Berlin 2012. Klappenbroschur: 298 Seiten, 18,00 EUR.

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