Wie inklusiv sind Waldorfschulen?

Mathias Maurer

Seit der Verabschiedung der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderung im Jahre 2009 haben Eltern das einklagbare Recht, ihr Kind an eine ganz normale Schule zu schicken. Waldorfschulen als Schulen in freier Trägerschaft sind allerdings nicht an die Konvention gebunden. Doch wenn sie sich nicht dem öffentlichen Vorwurf der Selektion aussetzen und völlig an einem Zeitthema vorbeipädagogisieren wollen, müssen sie sich der Herausforderung stellen – ganz gleich ob es sich dabei um eine Waldorfschule mit gymnasial exklusivem oder heil­pädagogisch inklusivem Profil handelt.

Dass Gesprächsbedarf besteht, zeigte der überraschende Run auf diese Tagung: Bei 600 Teilnehmern war Anmelde­stopp. Dabei brachten die Praktiker mehr Fragen mit, als die Veranstalter Antworten geben konnten.

Ein Novum dieser Tagung sei, hob Johannes Denger vom Verband für Heilpädagogik hervor, dass drei professionell separierte Waldorfverbände vor einer gemeinsamen Heraus­­forderung stünden. Denn: Nehmen normale Waldorfschulen verstärkt behinderte Kinder auf, graben sie den heil­pädagogischen (Sonder-) Schulen das Wasser ab. Tun sie es nicht, verstoßen sie gegen ein Menschenrecht. Neue Kooperationsformen sind also gefragt, um die Teilhabe und Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderung nicht nur auf dem Papier zu garantieren, sondern auch praktisch zu gewährleisten.

Was menschengemäß im anthroposophisch-anthropologischen Sinne heißen kann, führte Michaela Glöckler, Leiterin der Medizinischen Sektion am Goetheanum, aus. Fünf Inklusionsaspekte sind laut Glöckler zu berücksichtigen: auf der physischen Ebene die konstitutionellen Fragen, die auch die Tiefendimension des Schicksals, mit einer Behinderung zu leben und dieses Schicksal ausgleichend zu begleiten, mit einschließen; auf der Ebene des Lehrplans die Suche nach den physiologischen Entsprechungen von Entwicklungsprozessen, die sowohl Individuation als auch Inte­gra­tion ermöglichen; die seelische Seite oder die Be­ziehungs- ebene, die sich auf die schlichte Frage reduzieren lässt: Wie lieblos oder liebevoll gehen wir mit behinderten Menschen um? Schließlich der Aspekt der Identitätsstiftung, der mit einem Perspektivwechsel in der pädagogischen Haltung einhergeht: Den anderen nehmen, wie er ist – und sich selbst verändern. Schließlich die Ebene der Weltanschauung: Lebenswert oder lebensunwert – die Frühdiagnostik stellt nicht wenige schwangere Mütter vor die Frage einer Abtreibung mit der Folge, dass behinderte Menschen aussterben. Glöcklers Fazit: Waldorfpädagogik ist mit ihrer menschenkundlichen Grundlage ideale Inklusionspädagogik. Waldorf­schulen müssen wieder Modellschulen werden. So etwas wie die Auslagerung der Förderklasse Karl Schuberts bei der Wiedereröffnung der Waldorfschule Uhlandshöhe in Stuttgart nach dem zweiten Weltkrieg, dürfe sich nicht mehr wiederholen. Karl Schubert, so Glöckler, steht als Schutzpatron dieses erneuerten Inklusions-Impulses.

Schubert, der mit seiner »Hilfsklasse« die Waldorfpädagogik buchstäblich in seinem Rucksack durch den Krieg rettete, war von der damaligen Entscheidung des Kollegiums, das befürchtete, öffentlich als Behindertenschule angesehen zu werden, sehr enttäuscht gewesen. Diese Weichenstellung führte zur Gründung eines eigenen Schulvereins und letztlich zur Gründung des heilpädagogischen Verbandes.

Das Kind als Lehrmeister

Drei Einrichtungen präsentierten mit ihren Kindern ihr inklusives Konzept – praktisch-künstlerisch die Windrather Talschule, mit einem Infostand die Integrationsklasse der Freien Waldorfschule Berlin-Kreuzberg und der Waldorfkindergarten Prenzlauer Berg, Berlin. Sie zeigten, mit welcher berührenden Selbstverständlichkeit behinderte Kinder in Kindergarten und Schule integriert sein können.

Es folgten drei menschenkundliche Kurzvorträge zum Thema. Heiner Prieß, Heilpädagoge am Rudolf Steiner Institut Kassel, brachte das Verhältnis von Heilpädagoge und Lehrer ins Bild: sie stehen Rücken an Rücken und blicken in entgegengesetzte Richtungen. Rudolf Steiner beschrieb, ausgehend von dem Gedanken der wiederholten Erdenleben, die erzieherische Perspektive des Lehrers: sie ist auf das gerichtet, was ein Kind aus seinem vorherigen Leben mitbringt. Der Heilpädagoge blickt auf das, was ein Kind zwischen Tod und nächster Geburt erfährt. Beide »arbeiten« in der einen geistigen Welt. Dieses erweiterte Verständnis wirkt laut Prieß inkludierend. Florian Osswald, ehemaliger Oberstufenlehrer und Leiter der Pädagogischen Sektion am Goetheanum, stellte die Frage, ob die Waldorfschulen den Inklusionsgedanken als inneres Bedürfnis oder als von außen kommenden Zwang erlebten. Die Inklusion breche alte Gewohnheiten auf und fordere die Zusammenarbeit von Heilpädagogen und Lehrern heraus, wobei letztere von ersteren hinsichtlich ihrer menschenkundlichen pädagogischen Substanz dazulernen könnten. Osswalds Kollege Claus-Peter-Röh betonte anschließend, dass die Waldorf- und heilpädagogischen Schulen in einer offenen Situation stünden, deren Ausgang unbekannt sei. Wie werden sich beide Schulformen nicht nur in einem gesteigerten Maß gegenseitig anerkennen, sondern konkret zusammenarbeiten, ja vereinen? Er führte aus, dass Inklusion dort beginne, wo die Kraft eines (behinderten) Menschen, die gesamte Gemeinschaft verändere. Wenn das Kind als unser Lehrmeister betrachtet werde, begegneten sich Waldorf- und Heilpädagogik. Schon die Frage, ob man einem bestimmten Kind noch gerecht werde, impliziere die Trennung, sei der Beginn eines defektologischen Blickes.

Mehr Fragen, als Antworten

Reinhald Eichholz, ehemaliger Kinderbeauftragter der Landesregierung Nordrhein-Westfalen und Mitglied der Nationalen Kommission für die Umsetzung der UN-Kinder­rechtskonvention, und Johanna Keller, Justiziarin beim Bund der Freien Waldorfschulen, skizzierten die rechtlichen Aspekte der Inklusion. Es bestehe große Rechtsunsicher­heit. In keinem Bundesland wurde, trotz bundes­ge­richt­lichem Ultimatum bis März 2011, das Gesetz auf Länderebene ratifiziert. Auch die Finanzierung ist noch nicht einheitlich geregelt: Nach wie vor muss jedes Kind mit speziellem Förder- oder Betreuungsbedarf einen enervierenden Gutachtenparcours durchlaufen.

Das anschließende Gespräch mit den Teilnehmern zeigte deutlich, dass mehr Fragen bestehen, als Antworten gegeben werden können.

Es reicht zum Beispiel nicht, die Entscheidung, ob ein behindertes Kind an der Schule auf­genommen wird, einzelnen Lehrern zu überlassen. Die Schulgemeinschaft als Ganzes muss ein deutliches Votum abgeben. Es fehlt an Fachkräften, einer entsprechenden Infrastruktur (Barrierefreiheit) sowie an Ausbildungs- und Weiterbildungs­mög­lichkeiten, besonders im diagnostischen und thera­peu- ­tischen Bereich. Aus Hamburg und Bremen wurde ge­­meldet, dass sogenannte §12-Kinder in den Klassen 1 bis 5 schulgesetzlich ein Recht auf Inklusion haben und es ressourcenunabhängig wahrnehmen können. Und wie soll man sich einen inkludierenden Unterricht mit über 30 Kindern vorstellen? Eine Heilpädagogin meinte, keines der Kinder ihrer Klasse würde in einer normalen Waldorfschule mit ihrem Lerntempo zurechtkommen. Die Unterrichtsstile seien zu unterschiedlich. Die Schulen und Kindergärten bräuchten dringend praktische Hilfestellungen. Eine Klassen- und Förderlehrerin forderte den Arbeitskreis Inklusion auf, Leitlinien zu erarbeiten und den Einrichtungen an die Hand zu geben.

Andererseits zeigten mehrere Voten, dass man in der Praxis schon weiter ist. Es wird einfach inkludiert, ohne groß zu fragen – denn praktizierte Inklusion wird ohne Gutachten, die betroffene Kinder und Eltern sehr belasten, von den Ämtern nicht erlaubt. Das heißt, funktionierende Beispiele sind eigentlich (noch) verboten, wenn man nicht in eine bürokratische Schublade passt.

Es scheint, bis der Inklusionsgedanke zu einer inneren Haltung auch im öffentlichen Bewusstsein wird, werden noch ein paar Jahre ins Land gehen. Der übernächste Kongress im Herbst 2013 wird das Thema Inklusion behandeln (27.–29. September).