Erziehungskunst | In einem Porträt, das neulich im Harvard Business Manager erschienen ist, heißt es, Sie hätten mit Götz Werner, dem Unternehmenschef der dm-Drogeriemarktkette, die »Philosophie der Freiheit« Rudolf Steiners als »geistige Wurzel gemeinsam«. Was gefällt Ihnen an der »Philosophie der Freiheit?
Reinhard Sprenger | Die Idee vom Ich, das sich als ein Wesen der Freiheit selbst gestaltet. Sowohl im Erkenntnisprozess, der ein erschaffender ist und kein abbildender, als auch in der Handlung, bei der es sich in der Liebe zum Tun selbst verwirklicht. Erkennen und Handeln fallen dann in eins. Schon in meiner Pädagogik-Skepsis der frühen Studienjahre bestätigte mir das Buch, was mir später als Managementautor zum Grundtenor wurde: An der Freiheit des anderen kommt keiner vorbei. Ich kann mich vor dem anderen in seiner Unverstehbarkeit nur verbeugen und dann entscheiden, ob ich mit oder ohne ihn leben will. Verändern kann ich ihn nicht – es sei denn, ich verwechsle Lernen mit Anpassung.
EK | Steiner hat sich zur Zeit der Abfassung der »Philosophie der Freiheit« als individualistischen Anarchisten verstanden. Man könnte seine damalige Maxime mit dem Satz zusammenfassen: »Gehorche keinen Regeln, die Du Dir nicht selbst gegeben hast.« Wie lässt sich Unternehmens- und Mitarbeiterführung mit Anarchismus vereinbaren?
RS | Jeder Mensch, der seine Arbeit liebt, ist im Herzen ein Anarchist. Aber Anarchie ist ja nach Kant das freiwillige und geregelte Zusammenleben – also nicht erzwungen und nicht regellos. Ich erinnere die Manager und ihre Mitarbeiter immer wieder an die Freiwilligkeit ihrer Zusammenarbeit. Und wenn es um Regeln geht, dann empfehle ich äußerste Zurückhaltung und Selbstgesetzgebung im Rahmen dessen, was möglich ist. Was »noch« möglich ist, muss ich beinahe sagen. Denn der Prozess des Organisierens ist sehr weit vorgedrungen, er vernichtet immer mehr Alternativen. Ich glaube aber, dass der Markt es erzwingen wird: die Wiedereinführung des Menschen ins Management.
EK | Wie reagieren ökonomisch geschulte Köpfe, die ihre Entscheidungen an Effizienzgesichtspunkten ausrichten, wenn Sie ihnen erzählen, der Mensch müsse wieder zum Mittelpunkt unternehmerischen Handelns werden?
RS | Das ist nicht zu verwechseln mit dem unglaubwürdigen »Der Mensch ist Mittelpunkt« oder dem zynischen »Der Mensch ist Mittel. Punkt.« Mit der Wiedereinführung des Menschen ins Management meine ich ein aktives De-Strukturieren der Organisation, damit die Manager möglichst viele Sachverhalte wieder selbst entscheiden können. Vor allem mit Blick auf konkrete Kundenprobleme. Das wird kaum ohne Dezentralisierung und kleine Einheiten möglich sein. Nur so können wir in komplexen Prozessen den schnellsten Computer nutzen, der dem Unternehmen zur Verfügung steht: das menschliche Gehirn. Wenn die Marktturbulenzen diesen Gedanken plausibilisieren, sind Manager dafür durchaus offen. Sie verschließen sich nur, wenn die Angst über die Furcht siegt.
EK | Ein griechischer Philosoph hat gesagt: »Der Mensch ist das Maß aller Dinge, der seienden, dass sie sind und der nichtseienden, dass sie nicht sind«. Gilt dieser Satz auch für die Ökonomie und die Warenwelt?
RS | Protagoras’ berühmter Satz ist oft missverstanden worden. Er fordert keine allgemeine Menschlichkeit, kein moralisches Handeln, sondern versteht sich erkenntnistheoretisch. Er anerkennt die Perspektivgebundenheit aller Wahrnehmung, betrachtet Wahrheit als relativ, setzt das Individuum als Interpreten vor die Dinge. In den Unternehmen wird diese unhintergehbare Subjektivität durch Zahlen unterschlagen. So entsteht ein genaueres Bild des Scheins. Was ist denn gewonnen, wenn eine Steigerungsprognose von 25 Prozent bei tatsächlich erreichten 23 Prozent dazu führt, das man sich über die verfehlten 2 Prozent ärgert, nicht aber freut über die erreichten 23 Prozent? Oft wird unter der Hand Objektivität behauptet – und die gibt es nicht. Nicht unter Menschen. Denn Zahlen sprechen nicht zu uns. Wir sprechen zu den Zahlen. Zahlen mögen uns zu einer Antwort herausfordern. Aber diese Antwort ist von jedem einzelnen zu ver-»antworten«. Sie entbinden uns nicht von der Verantwortung.
EK | Die Ökonomie sieht sich heute ja vielfach der Kritik ausgesetzt. Man wirft ihr vor, sie sei zu sehr an Profitmaximierung orientiert und interessiere sich zu wenig für ethische und ökologische Belange. Manche Kritiker werfen dem ökonomischen Denken vor, es sei einer mechanistischen Philosophie verhaftet und drohe, die Gesellschaft, insbesondere Kultur und Bildung, wesensfremden Paradigmen zu unterwerfen und sie damit zu zerstören.
RS | Es ist wie mit den Kippfiguren: Je nach Sichtwinkel können Sie grenzenlose Skandale erkennen oder unglaubliche Wohlstandserfolge. Ich glaube nach wie vor, dass der weidwund geschossene »homo oeconomicus« eine extrem wirklichkeitsnahe Konstruktion ist – wenn man rationale Nutzenmaximierung nicht auf den rein materiellen Nutzen verengt. Der Mensch handelt immer eigennützig – egal, was er tut. Auch wenn er anderen hilft. Und was Sie mit »wesensfremden Paradigmen« bezeichnen, scheint mir auf ein problematisches Demokratieverständnis hinzuweisen. Jedenfalls akzeptiere ich nicht, dass die Opernkarte mit dem vierfachen des Preises subventioniert wird, während der volle Preis für ein Rockkonzert vom Besucher bezahlt werden muss. Die Moralisierung der Ökonomie ist ein Irrweg. Hingegen: Interessen auszugleichen, damit kann ich etwas anfangen.
Die Fragen stellte Lorenzo Ravagli.