Erziehungskunst | Frau Krauch, Sie sind langjährige Klassenlehrerin – haben sich die Kinder tatsächlich verändert?
Christine Krauch | Vor allem haben sich die Eltern und ihre Lebensweise verändert. Entsprechend haben sich auch die Kinder verändert. Zum Beispiel haben vor zehn Jahren die Eltern noch nicht alle gearbeitet. Die Kinder sind heute ganz anders durchgetaktet. Ihnen ist deutlich anzumerken, dass das Leben für sie viel anstrengender ist. Sie dürfen ja zu Hause nicht einmal mehr krank werden. Die Praxis unserer Schulkrankenschwester dagegen ist immer voll belegt mit Kindern, die während des gesamten Hauptunterrichtes sich erst einmal ausruhen müssen.
EK | Sind die Kinder nur Spiegel der elterlichen Lebensweise?
CK | Nicht nur. Sie sind viel individueller, denn das Leben dreht sich heutzutage mehr um sie. Die Eltern kümmern sich viel stärker.
EK | Frau Beckers, konnten Sie Langzeitbeobachtungen machen?
Birgitt Beckers | Ich bemerke zum Beispiel bei der Vorbereitung unserer Schulfeste oder bei der Aufführung eines Klassenspiels, dass die Kinder nicht mehr so belastbar sind. Ich konnte meine Schüler früher viel stärker beanspruchen. Die Phasen, in denen die Kinder konzentriert arbeiten können, sind viel kürzer geworden. Dabei sind die Kinder willig, lieb und lernbereit. Ich kann mich an die Anfangszeiten unserer Schule erinnern. Aufgrund der damals teilweise schwachen Strukturen waren die Schülerinnen und Schüler immer wieder ungeklärten Situationen ausgesetzt. Vielleicht war dadurch bedingt, dass die Schülerschaft in der Mittel- und Oberstufe sich viel stärker als heute kritisch und undiszipliniert verhalten hat. Auf der anderen Seite kann ich mich gut daran erinnern, dass die Klassen in Übprozessen wesentlich belastbarer waren.
Hinzu kommt, wenn es um das Lernen-lernen geht, dass das nicht mehr in der Gemeinschaft so ohne weiteres möglich ist. In der Arbeitsphase brauchen die Kinder individuelle Zugänge, vor allem Erlebniszusammenhänge. Der »Bewegungs«-Anteil, den die Kinder brauchen, wird größer, der »sehende« und »hörende« Anteil nimmt dagegen ab. An dieser Stelle ist der Lehrer einer Großklasse oft überfordert. Es ist deutlich, dass nicht mehr die Klasse als Ganzes lernt, sondern dass mindestens zehn Schüler in der Klasse individuelle Zuwendung brauchen. Gleich geblieben oder sogar intensiver geworden ist die Bereitschaft der Kinder, einem Erwachsenen, der von ihnen als Autorität anerkannt wird, zu folgen. Weiterhin ist erstaunlich wie gut die klassischen Epocheninhalte in den einzelnen Klassenstufen immer noch zu der Situation der Kinder passen.
EK | Wird den Kindern die Welt zu früh erklärt, sodass ihnen ein direkter Weltzugang nicht mehr möglich ist?
CK | Ja, es ist schon so. Die Kinder sind viel stärkeren und häufig wechselnden Sinneseindrücken ausgeliefert als früher. Die Welt ist für sie sehr kompliziert und komplex, sodass sie in einer ständigen Überforderung leben, diese Eindrücke integrieren zu müssen. In dieser Anspannung ist es für sie nicht leicht, sich seelisch für die Bilder, die wir ihnen geben, zu öffnen und warm mit ihnen zu werden. Trotzdem: Man erreicht sie, auch wenn man Vieles erst beiseite räumen muss. Oft sind die Kinder auch enttäuscht, weil sie schon so viel wissen. Ein Kollege erzählte mir von einem Jungen in seiner Klasse, der auf seine Schilderung, wie die Sonne die Blätter wärmt, die Säfte des Baumes strömen lässt, die Früchte reif und süß macht, antwortete: Photosynthese. Die Enttäuschung kommt daher, dass die Seele sich einem Geschehen nicht mehr erlebend öffnen kann.
BB | Die Intellektualisierung führt zu einem Verlust der Erlebnistiefe. Dennoch, die Kinder nehmen es dankbar auf, wenn man ihnen seelische Nahrung anbietet, selbst wenn es für sie in einer ungewohnten Weise geschieht. Was ich insbesondere bemerke, ist, dass die Kinder auf verschiedenen Ebenen sehr wach sind, was aber auf Kosten der Erlebnistiefe geht. Als Lehrer merkt man sofort, wenn sich ein Kind für einen Inhalt erwärmt. Die Fähigkeit, seelisch einzutauchen, ist den meisten Kindern noch gegeben. Aber schwierig wird es, wenn es in den Willen kommen soll, also das, was es aufgenommen hat, eigenständig wieder zum Ausdruck bringen muss. Zum Beispiel, indem ein Bild gemalt oder etwas aufgeschrieben wird. Ich meine nicht die Kinder, die es in jeder Klasse gibt, die genau das reproduzieren können, zum Teil Wort für Wort, was der Lehrer gesagt hat, sondern die, die den Stoff verinnerlichen und kreativ gestalten. An diesem Punkt muss ich immer mehr Handlungsanweisungen geben. Solche Kinder fragen permanent: »Wie soll ich das machen?«, oder sie sagen: »Bei mir wird das aber nicht so schön, wie bei den anderen.«
So habe ich zu Beginn meiner Klassenlehrerzeit noch wunderschöne Tafelbilder gemalt, die die Kinder später ins Heft übernommen haben. Heute male ich diese Tafelbilder nur noch mit den Kindern gemeinsam, weil ich erlebt habe, dass durch das schöne Bild sich viele Kinder gar nicht mehr trauen, selbst in die Aktivität zu gehen.
EK | Gibt es weitere Veränderungen bei den Kindern?
CK | Das Problem ist, dass wir heute auch viel mehr wissen. Früher wäre bei einem unkonzentrierten Kind wahrscheinlich nicht so schnell ADHS diagnostiziert worden. Trotzdem, die Aufmerksamkeitsproblematik ist heute viel stärker: Sich nur kurz konzentrieren können, nicht durch den Willen in die Tätigkeit kommen, das nimmt deutlich zu. Es spielen aber auch immer mehr die Beziehungsstörungen im Elternhaus oder ein häufiger Wechsel der Bezugspersonen eine Rolle. Da liegen viele Ursachen für das kindliche Verhalten. Dass man Kinder immer früher fremd betreuen lässt, in Krippen gibt, trägt zu Bindungsstörungen bei, die sich in einem unsicheren Verhältnis zu sich und der Welt äußern. Dass viele Kinder über ein enormes Wahrnehmungsspektrum verfügen, erfährt immer weniger einen Ausgleich durch abschirmende, hüllende Situationen. Es gibt nicht mehr die behütete Kindheit.
BB | Viele Kinder bekommen auch wegen der Impfungen keine Kinderkrankheiten mehr. Dem entgegen haben unsere Zweitklassuntersuchungen zusammen mit der Schulärztin ergeben, dass fast die Hälfte aller Kinder unter Allergien leidet, Sprachstörungen hat, Defizite in der Bewegungsmotorik aufweist oder sonstigen therapeutischen Bedarf hat. Und das, obwohl es sich um sogenannte gepflegte Kinder aus gutem Elternhaus handelt. Da ich viel an Waldorfschulen herumkomme, bemerke ich auch einen deutlichen Unterschied zwischen Kindern aus städtischem oder ländlichem Umfeld. Die unterschiedliche Lebensgeschwindigkeit ist ihnen deutlich anzumerken. Die städtische Lebensweise scheint die Vitalität der Kinder besonders anzugreifen. Ein Kind von der Schwäbischen Alb strahlt deutlich mehr seelische Ruhe und Weite aus, als ein Kind aus dem Ruhrgebiet.
CK | Ich denke, das alles muss man sehr individuell betrachten. Ich kenne Kinder, die aus den widrigsten Lebensumständen kommen und gleichwohl eine enorme Vitalität ausstrahlen und die Welt ergreifen. Andererseits gibt es Kinder, bei denen die Lebensumstände stimmen, aber die wie erschreckt vor dem Leben stehen, sich zurückhalten und keinen Anschluss finden an die Welt. Am ausgeprägtesten haben wir ja dieses Phänomen bei den autistischen Kindern.
BB | Man kann nicht unbedingt davon ausgehen, dass die Kinder gesund sind, wenn sie ein intaktes Elternhaus haben, wo sie sozusagen eine idealtypische Waldorfkindheit verbringen.
Ich kenne Kinder in meiner Klasse, die aus zerrütteten Verhältnissen kommen, die Pflegekinder sind: Da kann man sich nur wundern, was das für kräftige, lebendige Kinder sind. Welche Individualitäten müssen das sein, die sich da durchkämpfen? Andere wären da schon längst zerbrochen.
EK | Reden wir nicht nur von Defiziten. Gibt es auch Kinder, die über neue Fähigkeiten verfügen?
BB | Kinder nehmen außerordentlich feinsinnig wahr, was in ihrer Umgebung geschieht. Manchmal vermitteln Kinder den Eindruck, dass sie mit einer gewissen »Hellfühligkeit« begabt sind. Eltern, die die Spiritualität pflegen, berichten oft Entsprechendes von ihren Kindern. Bemerkenswert ist auch, wie die Kinder, aber auch die Jugendlichen untereinander eine neue Art von Liebesfähigkeit leben, auch gegenüber ihren Lehrern. Es ist zwar heute von Mobbing die Rede, aber das ist nur die Schattenseite dieser Fähigkeit. Ich erlebe immer wieder, wie neue Klassenkameraden äußerst liebevoll aufgenommen werden, von Ausgrenzung keine Spur. Und das dauert an, sie gehen durch die Prüfungen zu den Schulabschlüssen, indem sie sich gegenseitig unterstützen. Es ist auch ein Phänomen, wenn die früheren Klassenlehrer eingeladen werden, auf die Zwölftklassfahrt mitzugehen und dies von verschiedenen zwölften Klassen einer Schule gewünscht wird. Kurz: menschliche Verbindlichkeit wird gelebt.
CK | In meiner jetzigen achten Klasse ist auffällig, wie diese gerade beschriebene Umgangsweise auch zwischen Jungs und Mädchen gelebt wird. Normalerweise erlebt man im Rubikon, spätestens in der Pubertät, dass die Geschlechter sich voneinander distanzieren. Jetzt erlebe ich hingegen, wie dieser liebevolle Umgang untereinander anhält, keine Grobheit bei den Jungs, respektvoller Umgang miteinander. Es ist ein nahezu brüderlich-schwesterliches Verhältnis. Außerdem hat man als Lehrer das Gefühl, dass die Schüler einen völlig durchschauen. Als würden sie merken: Macht dieser Mensch, der da vor uns steht, ordentlichen Unterricht? Und selbst, wenn er ihn nicht macht, sind sie loyal. Sie gehen auch mit den Schwächen des Lehrers insgesamt sehr verständnisvoll und humorvoll um. Andererseits muss man den Respekt vor dem anderen den Kleinen erst beibringen, sie kommen oft distanzlos in die Schule. Sie unterbrechen die Rede des anderen, sie stören im Unterricht und haben dabei keinerlei schlechtes Gewissen.
Neu ist, dass die Schüler ihren Lehrer deshalb lieben, weil er – und das ist heutzutage nicht mehr selbstverständlich – immer da ist. Diese Kontinuität schätzen und würdigen die Schüler sehr. Neu ist auch: Die Schüler wollen nicht mehr als Gruppe angesprochen werden. Sie hören dann einfach nicht zu. Wenn ich sage, Kinder holt das Heft heraus, reagieren viele Kinder nicht mehr. Das hängt sicher auch damit zusammen, dass die Kinder zu Hause Prinz oder Prinzessin sind, ganz im elterlichen Fokus stehen. Wenn ich allerdings den Raum für eine eigene Arbeit öffne, zum Beispiel im Rechnen, dann werden die Kinder richtig aktiv, helfen sich gegenseitig und erfinden neue Aufgabenstellungen –, sodass dann auch die schwächeren Schüler nach der nächst schwereren Aufgabe greifen. Wenn die Schüler selbst bestimmen können, welchen Schwierigkeitsgrad, welches Pensum sie erarbeiten möchten, dann befeuert sie das. Dort, wo sie bestimmen können, was und wie sie lernen, sind sie zu Höchstleistungen bereit.
EK | Welche Konsequenzen hat das für den Unterricht?
CK | Methodisch neu ist, dass ich den Schülern die Lernprozesse selbst in die Hand gebe. Allerdings müssen sie von mir lernen, wie man lernt.
BB | Ich erlebte das gerade bei einer zehnten Klasse, die es gelernt hatte, eigenverantwortlich zu lernen. Das ging so weit, dass der Lehrer nicht nur für längere Zeit den Raum verlassen konnte, ohne dass Chaos ausbrach, sondern dass diese Schüler und Schülerinnen in der Schule und auch nachmittags zu Hause intensiv miteinander arbeiteten und glänzende Leistungen zustande brachten. Diese Schüler hatten schon in der Klassenlehrerzeit gelernt, Verantwortung für das eigene Lernen zu übernehmen. Neu ist auch das gemeinsame Unterrichten mit einem Kollegen. Durch Teamteaching wird man nicht nur der Größe der Klasse, sondern auch den unterschiedlichen Leistungsniveaus der Schüler gerecht. Ein einzelner Lehrer wäre da überfordert.
EK | Ändert sich durch die Kinder auch das Lehrerverständnis?
CK | Heute muss sich der Lehrer als permanent Lernender empfinden. Dazu gibt es sehr viele Fortbildungsangebote. Zentral ist allerdings, keine Angst vor dem Scheitern zu haben. Denn es ist ja immer interessant, herauszubekommen, warum etwas nicht klappt.
EK | Wie verträgt sich diese Selbstkritik des Lehrers mit der oft beschworenen Autorität und Unantastbarkeit?
BB | Ich erlebe es als einen regelrechten Angriff auf unsere Kultur, wenn man dem Kind das, wonach es von seiner Entwicklung her verlangt, vorenthält. Sozusagen die Rolle eines Lerncoaches einzunehmen und nur noch aus dem Hintergrund zu agieren, halte ich für eine pädagogische Katastrophe. Der Lehrer stiehlt sich aus seiner pädagogischen Verantwortung.
Es ist nicht eine Erfindung der Waldorfpädagogen, dass das Kind zu ihnen als liebevollen Autoritäten aufblicken soll, sondern es ist ein unmittelbares Bedürfnis der Kinder. Das ist eine Geste, die das Kind von sich aus vollbringt, nicht eine Geste, die wir dem Kind abverlangen. Es ist die Sehnsucht des Kindes da, dass es so den Erwachsenen betrachten kann. Es ist elementar wichtig, dass die Erwachsenen sich dieser Verantwortung bewusst werden und diese Rolle annehmen. Wenn Kinder ihr Bedürfnis nach einer geliebten Autorität ausleben dürfen, haben sie erst die Grundlage dafür, später einen richtigen Begriff von Gleichheit, das heißt, ein gesundes Rechtsempfinden auszubilden. Worauf es aber jetzt ankommt, ist, als Lehrer nicht nur zu einer Klasse als Ganzes zu sprechen, sondern auch das einzelne Kind wahrzunehmen. Das geht nur, wenn ich mich selbst fortwährend hinterfrage. Bei meinem ersten Durchgang als Klassenlehrerin ist es mir passiert, dass einige Kinder mit Defiziten in die Oberstufe gingen, die vermeidbar gewesen wären, wenn ich mich intensiver mit den Einzelnen hätte beschäftigen können. Durch eine vertrauensvolle Zusammenarbeit als Team in einer Klasse kann da viel mehr für jeden einzelnen Schüler geleistet werden.
CK | Das Wertvollste ist doch, das pädagogisch umsetzen zu können, was den Kindern wirklich hilft. Die Frage des Waldorfpädagogen ist: Wie wirke ich als Lehrer auf das Wesensgliedergefüge des Kindes? Das ist die eigentliche Inspirationsquelle für meine Arbeit. Die Kinder spüren genau, wie ich sie in aller Achtung innerlich anschaue und begleite. Sie spüren, dass man nicht mit seelisch plumpen Gesten, sondern in feiner Diskretion auf sie schaut. Das ist meine Arbeit in meiner Klasse. Und daraus speist sich auch das Autoritätsverhältnis. Die Anerkennung als Autorität lebt von dieser geistigen Hintergrundarbeit.
EK | Welche Sehnsüchte haben heutige Kinder?
BB | Sie haben eine Sehnsucht nach Wahrnehmungstiefe. Wir haben im Klassenzimmer ein Schmetterlingsgehege und verfolgen die Verpuppung der Raupe und das Schlüpfen des Schmetterlings und das ist so spannend, dass immer mehr Kinder aus anderen Klassen dazu kommen. Das heißt, die Kinder suchen die differenzierte Wahrnehmung und das vertiefte Erlebnis. Dadurch eröffnen sich für sie regelrecht innere Universen. Ein Weiteres: Wir hatten einmal unsere Mittel- und Oberstufenschüler gefragt, was sie sich am meisten wünschen würden. Da antworteten sie: Lasst uns Räume, die nicht verplant sind, in denen wir miteinander etwas entwickeln können. Es gibt also eine Sehnsucht nach erlebter Wahrnehmung und offenen Lernräumen.
Die Fragen stellte Mathias Maurer.