Aregnasan

Ruben Janibekyan

Stand der Dinge

2020 war für ganz Armenien ein außerordentlich schwieriges Jahr. Zuerst ist die ohnehin schwache Wirtschaft wegen der Pandemie im Frühling 2020 stark geschrumpft. Auf einen Schlag wurde ein Drittel der Eltern arbeitslos und zahlungsunfähig, ein weiteres Drittel kam in große Schwierigkeiten mit der Bezahlung des vollen Schulgeldes. Die Administration der Schule wurde mit Bitten von Eltern um eine Zahlungspause oder Ermäßigung überschwemmt. Manche Eltern verweigerten auch die Zahlungen im vollen Umfang, weil beim Online-Unterricht die Waldorfqualität selbstverständlich völlig verschwand. Die Schule befand sich in finanziellen Schwierigkeiten, eine existenzielle Krise drohte. Die Situation verschlechterte sich drastisch noch einmal, als Ende September der Konflikt mit Aserbaidschan um Bergkarabach erneut aufflammte. Der psychische Zustand der Eltern, Kinder und des Kollegiums war damals ziemlich bedrückend. Elf ehemalige Schüler waren im Krieg, einer von ihnen ist gefallen, ein anderer wurde verwundet. Der Schock der Schulgemeinschaft war groß. Nach wie vor bleibt die Situation weiter kompliziert. Der Nachkriegszustand nagt an den Seelen. Ohne die großzügige finanzielle und mensch­liche Unterstützung durch die Freunde der Erziehungskunst Rudolf Steiners wäre der Sommer nicht zu überbrücken gewesen. Die Schule hat von den »Freunden« auch Geld für die Flüchtlinge erhalten, die obdachlos und ohne jegliche Mittel aus Karabach nach Armenien geflüchtet sind. Einer Familie konnten wir dadurch ein altes Haus wieder bewohnbar machen.

Das Waldorf-Orchester »ZEIG«

Seit Herbst 2019 arbeitet an der Waldorfschule Aregnasan die Musikgruppe »ZEIG« (»Morgendämmerung«). Sie verfügt über ein breites Repertoire an Volksliedern, die sie entweder selbst im Folk- oder Folk-Rock Stil bearbeitet oder von anderen ähnlichen Gruppen übernimmt. Die Gruppe wird von unserem ehemaligen Schüler Artur Atayan, geführt, den die Schule eingeladen hat, das Projekt zu leiten. Die Gruppe hat schon viele Konzerte gegeben, darunter auch für die Kinder der Flüchtlinge aus Bergkarabach. Die Lieder werden in der jeweiligen Muttersprache gesungen – Armenisch, Deutsch, Englisch, Bretonisch, Tschechisch und Altschwedisch.

Schulprojekte in der Oberstufe

Die an Waldorfschulen üblichen Projektarbeiten in der Oberstufe kann sich unsere Schule zurzeit kaum leisten. Wir haben einen unserer Kollegen gebeten, diese Aufgabe zu übernehmen und sie in irgendeiner Weise auszuführen, damit die Oberstufenschüler individuell eine kreative Arbeit durchführen können. Es sind keine Projekte im klassischen Sinn, weil sie während des Unterrichtes gemacht werden und die Schüler auch etwa zwei Jahre jünger sind als gewöhnlich. Deshalb nennen wir diese Projektarbeiten oft Präsentationen.

Die Schüler suchen sich ein Thema aus, das sie wirklich interessiert, und arbeiten dann mit Unterstützung eines Mentors daran. Am Ende des Schuljahres oder Halbjahres wird die Arbeit vor der Klasse oder der Oberstufe und dem Kollegium vorgeführt, je nachdem, wie tief und ernst die Arbeit gedacht und gemacht worden ist. Im Jahr 2021 haben wir diese etwas eingeschlafene Tradition wieder aufgefrischt und damit auch das Leben der Schule.

Gegen den Strom

Die Waldorfschule »Aregnasan« paddelt immer gegen den Strom. Das geschieht nicht nur im Bereich der Pädagogik. Ende Dezember 2020 hat die Schule unmittelbar nach dem Krieg ein Fest für die Kinder organisiert, trotz der Resignation in der armenischen Gesellschaft und staatlichen Verordnungen zu Covid-19. Alles wurde aber im entsprechenden Takt und mit Rücksicht auf die Situation im Land gemacht. Die Klassen zeigten wie immer manches, was sie während des Jahres gelernt hatten. Das Kollegium verzichtete diesmal auf eine Weihnachtsaufführung. Stattdessen haben die Lehrerinnen mit einer Elterngruppe aus verschiedenen Klassen eine große Lebkuchenstadt organisiert, die einen prominenten Platz im Foyer des Theaters einnahm. Eine Exkursion durch die Stadt wurde zum Höhepunkt des Tagesprogramms.

Im Schuljahr 2020 konnte die Schule wegen der sehr strengen staatlichen Vorschriften für die damaligen Absolventen kein richtiges Schulfest organisieren.

Unserer Tradition nach besucht die Absolventen-Klasse am letzten Schultag als erstes alle Waldorfklassen, die ein Abschiedswort, ein Lied oder einen Sketch für die Abgänger vorbereitet haben. Danach versammeln sich Lehrer, Schüler und Eltern in einem großen Raum, um »die letzte Stunde« oder den »letzten Unterricht« zusammen durchzuführen. Dabei werden warme Abschiedsworte und Wünsche ausgesprochen oder man erinnert sich an komische oder markante Episoden aus dem gemeinsamen Schulleben. Am Abend findet ein Schulfest statt, bei dem alle Klassen, manchmal auch die Lehrer und unbedingt die abgehende Klasse etwas vorführen. In diesem Jahr aber haben wir die etwas gelockerten Vorschriften ignoriert. Und es hat sich gelohnt. Fast alle Lehrer und manche Eltern hatten den Eindruck, dass das Wesen der Schule darauf lange gewartet hat. Es war wie ein neuer großer Atemzug im geistig-seelischen Luft-Raum.

Eine neue Waldorfschule in »Aregnavan«

Im Jahr 2015 entschied das Kollegium, einen zweiten Zug zu eröffnen. Die Zahl der Anmeldungen wuchs jedes Jahr so sehr, dass wir 2014 schon 85 hatten (von denen wir nur 38 Schüler aufnehmen konnten, was aber für eine Klasse ziemlich viel ist), im Jahre 2015 waren es 120 (schon zwei 1. Klassen aufgenommen mit insgesamt 64 Kindern) und im Jahr 2016 – 150. Die Entscheidung vom Jahr 2015 hatte also objektive Gründe.

Andererseits waren die Raumverhältnisse damals wie auch noch heute sehr beengt. Zurzeit besuchen 560 Schüler die Schule. Die Schule hat schon alle möglichen Räumlichkeiten geopfert, wie z.B. das Lehrerzimmer.

Gleichzeitig entstanden im Kollegium seit vier, fünf
Jahren Überlegungen zu einer neuen Schule außerhalb Eriwans. Eltern schenkten der Schule ein 2,6 Hektar großes Grundstück in der Nähe der Stadt. Dies gab dem bloßen Gedanken einen gewissen Boden, verlieh den noch ab­strakten Ideen und Träumen ein bisschen mehr Realität.

Seitdem sind drei Jahre vergangen und die Idee einer neuen Schule in »Aregnavan« (so nennen wir die zukünftige Siedlung, die um die neue Schule entsteht) ist viel konkreter geworden. Ein Architekt, Vater eines Absolventen, arbeitet intensiv an dem Entwurf. Wir hoffen, noch während der Sommerpause einen generellen Plan und alle nötigen Zeichnungen von ihm und seinem Büro zu bekommen, um eine Baugenehmigung zu erhalten. Im Herbst hoffen wir, mit den Bauarbeiten anfangen zu können.

Das Projekt wird teilweise durch hiesige Investoren finanziert. Der Hauptförderer des Projektes sind die Freunde der Erziehungskunst Rudolf Steiners; alle die unser Vorhaben unterstützen möchten, können sich an sie wenden.

Zum Autor: Ruben Djanibekyan ist Arzt und lebte von 1992 – 1998 in Deutschland, wo er das Ärzte-Seminar an der Filderklinik und das Lehrerseminar in Stuttgart besuchte. Seit 20 Jahren an der Waldorfschule Eriwan, heute »Aregnasan«, als Schularzt, Biologielehrer und im Verwaltungsrat tätig.