Im Künstlerischen wird der ganze Mensch angesprochen
Am Ende des Schulwegs eben noch im angeregten, temperamentvollen Gespräch verstrickt, betreten Zweitklässler frühmorgens den Klassenraum und verstummen: Auf dem Boden vor ihnen ist mit großen weißen Kreidelinien eine Form gemalt, aber nur zur einen Seite einer geraden Mittellinie. Sogleich stellt sich eine Schülerin an den Anfang der Linie und ruft der Mitschülerin zu: »Du spiegelst!« – Im nächsten Augenblick beginnen beide ihren Weg. Während die eine Schülerin sich von den Schwüngen und Bögen der Form am Boden leiten lässt, versucht die andere die unmittelbar gespiegelte Entsprechung im freien Raum zu bilden.
Nach einigen Schritten aber verwandeln sich die Bewegungen: Die Aufmerksamkeit weitet sich und die Schritte werden langsamer, als fänden sie nun ihr eigenes Zeitmaß. Mit größter Empfindsamkeit versuchen beide, zu einer stimmigen, harmonischen Einheit zu werden.
Über die äußere, rein gesetzmäßige Spiegelung, das »Was« hinaus, beginnen beide in der Dynamik der Bewegungen, Schwünge und Wendungen ein ästhetisches Element, ein »Wie«, zu verwirklichen. In einer solchen aus innerem Antrieb vollzogenen Verwandlung des rein äußerlich Notwendigen zu einer ästhetisch stimmigen Verwirklichung zeigt sich eine erste Qualität des Künstlerischen. Mit dem Erreichen dieser Qualität geht offenbar die Fähigkeit einher, unterschiedliche Tätigkeiten zu einem Ganzen zu bündeln, wie es diese Schülerinnen zeigen:
- Die aus innerem Impuls geführten Bewegungen,
- verbunden mit klarer Sinnes- und Eigenwahrnehmung
- bei gleichzeitig wachsam empfindender Aufmerksamkeit für den Verlauf der Form, für den Raum, für die Mitschülerin und für das ästhetisch Stimmige des ganzen Geschehens
- in einer Tätigkeit, die auf ein Ziel gerichtet ist und zugleich im Augenblick ihr eigenes Bewegungs- und Zeitmaß hervorbringt.
Dieses Gebündeltwerden der Kräfte kann sich so steigern, dass andere Sinneseindrücke während der Tätigkeit nicht mehr wahrgenommen werden. Für Henri Matisse gehört diese bündelnde, neu ordnende Kraft zu den entscheidenden Voraussetzungen des künstlerischen Tuns: »In den Dingen der Kunst ist der echte Schöpfer nicht nur ein begabter Mensch, sondern einer, der es verstanden hat, ein ganzes Bündel von Aktivitäten zu ordnen in Hinblick auf ein Ziel, dessen Resultat ein Kunstwerk ist.«
Im Beispiel der Schülerinnen der zweiten Klasse beginnt der Prozess mit der Aktivität des ganzen gehenden, empfindenden, wahrnehmenden und zugleich erkennenden Menschen. Im nächsten methodischen Schritt verinnerlichen die Schüler das äußere Tun, indem sie die gelaufene Spiegelform mit den Händen zunächst in der Luft neu bilden und schließlich auf ein großes Blatt zeichnen. Dieser Weg von der äußeren Willenstätigkeit bis zum inneren verstehenden Nachvollzug bildet die Voraussetzung dafür, die Form schließlich selbst zu zeichnen, ganz aus der nun freigewordenen inneren künstlerischen Gestaltungkraft heraus.
Fünf Jahre später, in der Mittelstufe, haben sich die Schüler in ihrer Entwicklung grundlegend verwandelt. Jene kindliche Verbundenheit von äußerer Tätigkeit und innerem Erleben hat eine Metamorphose durchlaufen und zeigt sich nun als ein seelisches Spannungsfeld: Einerseits hat sich die frühere Selbstverständlichkeit des unmittelbaren Handeln-Könnens aufgelöst und die Schüler schwanken zwischen Verunsicherung, Grenzsuche und Entdeckungsfreude.
Andererseits sind das Bedürfnis und die Fähigkeit gewachsen, Zusammenhänge aus dem eigenen Fragen und Denken heraus zu erschließen und zu verstehen. Das Fühlen bewegt sich in ständiger Suchbewegung zwischen beiden Polen. Aus dieser Entwicklungsdramatik ergibt sich die pädagogische Herausforderung, diese neu erwachenden Fähigkeiten anzusprechen und zugleich die sich voneinander lösenden seelischen Ebenen neu zu verbinden. Als entscheidender Schlüssel zu dieser Neu-Verbindung zeigt sich die Qualität des Künstlerischen. Anders als in der unmittelbaren Willensbetonung der Unterstufe gilt es nun allerdings, die Ebene des Gedanklichen stärker in dieses verbindende Erleben und Lernen einzubeziehen. Ausgangspunkt dafür können zunächst biographische Darstellungen sein wie aus dem Leben Leonardo da Vincis in einer 7. Klasse. Im Miterleben seines Schaffens ist die drängende Suche nach einem Verstehen stets mit einem Ringen um das Schaffen und Verwirklichen seiner Werke verbunden.
Auf individuelle Weise spiegeln die Siebtklässler dieses Drama zwischen Erkenntnis und Tat, zwischen der Überlieferung des Bekannten und der Entdeckung von Neuem aus der forschenden Beobachtung heraus. So beschreibt der Schüler Axel Neuhaus zwei kleine Szenen aus der Lehrzeit Leonardos: »Eines Tages gab es einen Streit unter den Gesellen und sie teilten sich in drei Meinungen, von denen jede Partei glaubte, sie hätte recht.
Als Leonardo das hörte, rief er: ›Ihr Dummköpfe! Ihr glaubt nur, aber man muss erkennen und beobachten!‹ Leonardo interessierte sich auch für den Bau des menschlichen Körpers. Manche Nacht bestach er den Wächter der Totenhalle, dass er ihn hereinlassen sollte. Er sagte einmal: Wenn man den kunstvollen Bau des menschlichen Körpers kennt, kann man ahnen, wie kunstvoll seine Seele ist.«
Solche Schilderungen und Erlebnisse legen die Grundlagen für künstlerische Übungsreihen: Das kann mit der Aufgabe beginnen, das Spiel von Licht und Schatten in unterschiedlichsten Verhältnissen zu beobachten und Skizzen zu den entdeckten Gesetzmäßigkeiten anzufertigen. Am Ende stehen die Schüler vor der Herausforderung, sich für eine Licht-Schatten-Situation zu entscheiden und diese als Kohle-Zeichnung auszuführen. Die Spannung zwischen Weiß und Schwarz, zwischen Licht und Dunkelheit prägt bald die Atmosphäre. Das markante Setzen der schwarzen Kohlelinien auf das weiße Papier verbietet aus sich selbst jede Leichtfertigkeit und Flüchtigkeit.
In dieser künstlerischen Tätigkeit ist der ganze junge Mensch angesprochen: Während des Zeichnens prüft er mit wachen Sinnen und abwägendem Empfinden die Linienführung und die Schattierungen, um falls nötig neu anzusetzen.
Durch alle Ebenen und Widerstände hindurch wird der Wille aktiv, um sich dem Ziel der selbst gewählten und innerlich ausgeformten Licht-Schatten-Szene zu nähern. Dabei prüfen die Schüler dieser 7. Klasse nicht nur, ob das Verhältnis von Licht und Schatten technisch richtig ist, sondern sie folgen auch einem inneren Sinn für das ästhetisch Stimmige.
Verwandlung der Zeit im Künstlerischen
Schon diese ersten Beispiele zeigen, wie der Aufbau und das Erleben von Polaritäten methodisch zum Künstlerischen hinführen: Erst durch den Gegensatz zweier sich spiegelnder Formen, erst durch die Polarität von Licht und Schatten können sich Spannungsräume entwickeln, die den jungen Menschen zur Sinneswachheit, zur Empfindung unterschiedlicher Qualitäten und zur eigenen Gestaltung herausfordern.
Eine grundlegende Polarität, die in jedem Unterricht auf unterschiedliche Weise zur Geltung kommt, ist das Verhältnis zum Räumlichen und zum Zeitlichen. In den geschilderten Beispielen liegt der Schwerpunkt der Betrachtung zunächst auf dem Räumlichen. Dieses kommt in der menschlichen Sinneswahrnehmung, Orientierung und Bewegung vor allem durch das Zeichnerisch-Plastische zum Ausdruck.
Doch auch eine zeitliche Entwicklung liegt beiden Beispielen zugrunde. Indem die Schüler beginnen, ihre Kräfte zu bündeln und sie auf die künstlerische Tätigkeit zu richten, verwandelt sich ihr Erleben der Zeit.
In einer temperamentvollen, tatkräftigen 4. Klasse hat sich ein Streit unter Schülern entzündet. Schon früh am nächsten Morgen betreten sie mit erhitzten Gemütern den Raum: Nach dem Wahrnehmen des Für und Wider im Gespräch bringen der Morgenspruch und das erste Singen eine gewisse Beruhigung. Doch noch immer sind manche Schüler vom Streit betroffen. So entschließt sich die Lehrerin, die Erzählung, die gewöhnlich am Ende der Stunde stattfindet, vorzuziehen. Sie setzt nun die Geschichte von einem Wikingerjungen fort, der mit großem Mut zum ersten Mal ein Langschiff steuert, um den Freunden im Dorf Hilfe zu bringen. Nach und nach tauchen alle Kinder in den Sprach- und Bilderstrom der Erzählung ein. An deren Ende verteilt sie große Blätter und gibt nun die Aufgabe, jenen Jungen im Boot auf dem Meer zu malen. Einige Schüler sind verunsichert. Für diese deutet sie mit dem nassen »Zauberpinsel« die Form eines solchen Wikingerbootes auf der Tafel an.
Bald verblassen die angedeuteten feuchten Linien wieder. Ein Schüler bittet die Lehrerin um Hilfe. Erwartungsvolle Spannung ist im Raum. Eben noch wurde die Phantasie von der Erzählung angeregt, nun wendet sich der Blick nach innen. Zögernd werden die ersten Striche auf die leeren Blätter gesetzt. Aller Anfang ist schwer, aber allem Anfang wohnt auch ein Zauber inne. Nach und nach werden alle Schüler vom Strom des Schaffens ergriffen. Jeder ist so mit dem Entstehen des Bildes verbunden, dass eigene Zeitrhythmen entstehen: Manche streben zügiger dem Ziel zu, andere genießen es, abzuwägen und kleine Schritte zu machen.
Eine besondere Arbeitsstille tritt ein. Neben der Freude am Geschehen hat die Lehrerin das Empfinden, jetzt nicht »stören« zu dürfen. Es scheint, als befände sich jeder Schüler in einer Art Dialog zwischen dem Wesen des Themas und einem ureigenen inneren Tätigkeitsquell. Aus der Intensität dieses Dialogs bildet sich neben der Eigendynamik des Zeiterlebens auch ein Wille zur stetigen Weiterentwicklung: Auftretende Herausforderungen und Widerstände werden im Strom der Schaffensfreude überwunden.
Erstaunlich ist die innere Sicherheit, mit der viele Kinder zu Werke gehen, sobald sie den eigenen Schaffensrhythmus gefunden haben. Offenbar bildet sich im Strom dieser künstlerischen Tätigkeit auch die individuelle Orientierung heraus, wie das Einzelne sich zu einem Ganzen fügen kann. So ist es nicht verwunderlich, dass die Schüler im anhaltenden Prozess des Neugestaltens gewohnte Grenzen der Ausdauer überschreiten und Arbeiten von individueller Ausdruckskraft entstehen.
Betrachten wir jene Verwandlung der erlebten Zeitqualität nun zum Vergleich aus der Perspektive einer anderen Altersstufe und einer anderen künstlerischen Tätigkeit: Am Beispiel seiner Theaterrolle in der 8. Klasse beschreibt Claus Otto Scharmer den Übergang des Zeiterlebens von der Vorbereitung und Hinführung zum Augenblick des Schaffens und Ringens in der Aufführung: »Du hast den Text und die Bühnenanweisungen auswendig gelernt. Dann ist es soweit. Der Vorhang will gerade aufgehen. Die Stimmen im Publikum werden leiser. Plötzlich fühlst du dich so, als ob die Erde sich zu drehen aufhörte. Alles, all die Monate des Vorbereitens schrumpft zu einem kleinen Haufen der Verzweiflung und des Wegrennenwollens. Es verschwindet alles. Du vergisst alles, was Du je gelernt hast. Du hast Angst. Du bist allein. Mehr aus Verzweiflung als aus Hoffnung bleibst Du dabei. Nicht weil Du mutig bist, sondern weil es zu spät ist, wegzurennen. Dann, bevor du es noch realisierst, siehst du, wie der Vorhang sich öffnet. Zu spät. Es gibt keinen Ausweg mehr, kein zurück. Jetzt kannst Du nur noch nach vorn. Die Zeit hält an.«
In den Worten »die Zeit hält an« kommt das Alltagsleben zum Stillstand. Die Sicherheit, in diesem gewohnten Zeitstrom zu sein, geht verloren und führt durch das Erleben von Angst vor dem Ungewissen hindurch zu einer neuen Erfahrung. Scharmer beschreibt diese als das Eintauchen in eine zunächst unvertraute Hülle von gesteigerter Aufmerksamkeit. Wie in Zeitlupe stolpert er in die ersten Bewegungen, Worte und Gesten hinein, um dann das eigene, zu dieser Situation, dieser Aufführung stimmige Zeitmaß eines tragenden inneren Dialoges mit der Rolle und dem Publikum zu finden. Die Verwandlung des Zeiterlebens beim Eintauchen in den Strom des künstlerischen Schaffens zeigt sich in den beiden Beispielen im Zusammenhang mit folgenden Phänomenen:
- In unterschiedlicher Weise muss das gewohnte, Sicherheit gebende Zeiterleben losgelassen oder verwandelt werden.
- Im Wechselspiel zwischen äußeren Wahrnehmungen und Herausforderungen und innerlich antwortenden Handlungsimpulsen entsteht eine erhöhte Aufmerksamkeit und eine Art tragender Dialog.
- Dieser »Dialog« hat sein individuelles Zeitmaß und seine eigene Zeitdynamik.
- Es bildet sich die Fähigkeit einer inneren Orientierung für das Zusammenstimmen einzelner Schritte mit dem Ganzen.
- Im Prozess des Schaffens bildet sich ein Wille zur ausdauernden Weiterentwicklung und Vollendung der Arbeit.
Die hier nur in kurzen Beispielen dargestellten pädagogischen Aspekte der künstlerischen Tätigkeit gilt es, weiter zu vertiefen und zu erforschen. Ein Blick in die pädagogische Fachliteratur zeigt die Aktualität der Fragestellung. So schreibt Carl-Peter Buschkühle: »An die Stelle von Abstraktion, Akzeleration und Animation setzt die Kunst eine Vertiefung, Verlangsamung und Verselbständigung der Auseinandersetzung. Mit Abstraktion kann man das bezeichnen, was inszenierte Medienbilder im Verhältnis zur erlebbaren Realität betreiben.« Stehen wir nach 100 Jahren der Entwicklung heute vor der Frage, welche Impulse für die Zukunft der Waldorfschulen entscheidend sein werden, so gehört die Durchdringung der Methodik mit den Kräften des Künstlerisch-Ästhetischen sicherlich zu den wesentlichen Zielen.
Zum Autor: Claus-Peter Röh war 28 Jahre Klassen-, Musik- und Religionslehrer an der Freien Waldorfschule Flensburg; heute leitet er zusammen mit Florian Osswald die Pädagogische Sektion am Goetheanum in Dornach.
Literatur: C.-P. Buschkühle: Bildet das Ästhetische? Überlegungen zu einer ästhetischen und künstlerischen Bildung. Pädagogische Rundschau 5 (112), 2015 | H. Matisse: Das Leben mit den Augen eines Kindes betrachten, in: D. Keel (Hrsg.): Erlebte Geschichten – Biographisches, Zürich 2006 |C.O. Scharmer: Theorie U – Von der Zukunft her führen, Heidelberg 2009