Wie kommen ausgerechnet Waldorfschüler dazu, plötzlich den Aufstand zu proben und ihre Bildung selbst in die Hand zu nehmen? »Waldorfschulen unterscheiden sich in der Oberstufe nicht mehr sehr von einem staatlichen Gymnasium«, sagen die Aussteiger. Horst Eisenmann, Oberstufenlehrer für Mathematik und Physik an der Stuttgarter Michael Bauer Schule bestätigt: »Aufgrund der Stofffülle muss heute bereits in der neunten Klasse mit Prüfungsvorbereitungen begonnen werden.« Im letzten Jahr vor dem Abitur gilt auch an Waldorfschulen: lernen, lernen, lernen. »Den angehenden Abiturienten muss möglichst viel Fachwissen in kürzester Zeit vermittelt werden«.
Wir wollen selbst bestimmen, wie wir lernen
Die Freiburger Waldorfschüler haben sich ohne Groll, aber offensiv für das selbstbestimmte Lernen entschieden. »Wir hatten eigene Vorstellungen vom richtigen Lernen, die wir an unserer Schule nicht umsetzen konnten«, sagen sie – »deshalb mussten wir raus aus der Institution.« Ihr Entschluss stand fest: Frontalunterricht im starren 45-Minuten-Takt, passives Lernen oder Unterrichtsstoff, mundgerecht in Happen serviert – nein Danke!
Einfach ist der gewählte Weg nicht. Den Hütern des alten Systems sind die fleißigen Rebellen keineswegs willkommen. Für ihren Traum vom »Abitur ohne Schule« müssen sie viele Hürden nehmen – organisatorische, finanzielle und rechtliche. Sie gründen den Verein »Methodos«, mieten einen Raum an und stellen stundenweise Fachlehrer ein, um sich als »Externe« auf das baden-württembergische Zentralabitur vorzubereiten. Keine leichte Aufgabe: Bereits im Frühjahr 2008 müssen sie nicht nur dieselben Prüfungen ablegen wie Schüler eines staatlichen Gymnasiums, sondern sie müssen sich insgesamt zwölfmal den Prüfern stellen – das sind sieben Prüfungen mehr als beim normalen Abitur. »An einer staatlichen Schule ginge das wesentlich einfacher und billiger«, lautet der Kommentar aus der Schulverwaltung des Kultusministeriums.
Nicht jeder kann kurz vor dem Abitur aussteigen und auf eigene Faust das Abitur machen. Die Auflagen sind insbesondere für Schüler von staatlichen Gymnasien sehr streng. Zwei Mitstreiter aus der Methodos-Gruppe sind deshalb wieder an ihre Schule zurückgekehrt. Sie durften nicht mitmachen, weil sie im letzten Schuljahr die zwölfte Klasse besuchten und dort bereits einen Teil des Abiturs geschrieben hatten. Die übrigen sind Waldorfschüler, die in der zwölften Klasse ohnehin keine Noten bekommen, die in die Abi-Noten einfließen.
Die Kosten der Freiheit dürfen an den Eltern nicht hängen bleiben
Und die Eltern der betroffenen Schüler? Einige von ihnen stehen der Experimentierfreude ihrer Kinder zunächst mit Skepsis gegenüber. »Müsst ihr es euch denn so schwer machen?«, fragen sie ihre Sprösslinge. Schließlich ist es nicht alleine der Druck, im nächsten Jahr das Abitur als »Externe« bestehen zu müssen – es gibt auch finanzielle Belastungen. Immerhin liegen die geschätzten Kosten für das Abi-Projekt bei 50.000 Euro. Davon übernehmen die Eltern 15.000 Euro. Für den Rest hoffen die angehenden Abiturienten, Sponsoren zu finden. »An unseren Eltern darf das nicht hängen bleiben«, meinen die Methodos-Schüler, die Wert darauf legen, möglichst alles selbst zu organisieren. Überraschend schnell aber können sie die Bedenken des Philologenverbandes zerstreuen, der vermutet: »Die werden keine Lehrer finden«. Im Gegenteil: Erstaunlich viele Lehrer sind bereit, sich auf das Freiburger Experiment einzulassen und beim Unterrichten auf Augenhöhe grundlegend neue Erfahrungen zu machen.
Im Juli 2008 ist es dann soweit: Der Landesschülerrat Rheinland-Pfalz gratuliert der Freiburger Lerngruppe »Methodos« zum bestandenen Abitur. Felix Martens, Schüler der dreizehnten Klasse und Pressereferent der Landesschülervertretung, erklärt: »Viele von uns fühlen sich durch die Strukturen unseres Systems massiv eingeschränkt und eingezwängt: durch strenge Lehrpläne, einen versteinerten 45-Minuten-Takt, Unterrichtsformen und Methoden, die ausschließlich von der Lehrkraft festgelegt werden.« Nachdem die erste Methodos-Gruppe ihr Abitur mit einem Durchschnitt von 2,3 bestanden hat, sagt Martens, spreche alles dafür, mehr Schülern diese Art des Lernens zu ermöglichen.
Ohne Copyright: die Methodos-Idee lebt weiter
Der Medienrummel ist deutlich leiser geworden. Dennoch: Seit Sommer 2009 ticken die Uhren bei »Methodos« erneut unerbittlich – das Selfmade-Abitur geht mit neuer Besetzung in die zweite Runde. Eile ist geboten, denn bereits im April beginnt der Prüfungsmarathon am Gymnasium Kenzingen. Die neue Methodos-Generation kommt aus Waldorf- und Montessorischulen sowie aus der Freien Schule Elztal – alles reformpädagogische Bildungseinrichtungen. So unterschiedlich ihre Schülerbiographien auch sein mögen, eines haben sie gemeinsam: »Wir finden die Idee unserer Vorgänger einfach klasse, den Abiturstoff nach eigenen Methoden zu erarbeiten«, erklären sie einmütig.
In kommunikativen Runden ist das Lernen effektiver
Das Gebäude in der Schwarzwaldstraße ist nur schwer zu finden. Versteckt liegt es hinter der Fassade eines riesigen Einkaufszentrums. Im Raum des Freiburger Selbsthilfezentrums sitzen zehn Schüler um einen quadratisch angeordneten Tisch – alle zwischen 18 und 20 Jahre alt. Darauf verteilt liegen Textkopien, Wörterbücher, Formelsammlungen, Schulhefte und Leitzordner; daneben Sprudelflaschen, Kaffeebecher und leere Bäckertüten.
Der Deutschunterricht hat bereits begonnen. Der Raum ist erfüllt von einer ganz eigenen Arbeitsatmosphäre. Es ist eine Mischung aus hoher Konzentration, jugendlichem Elan und ungekünstelter Lockerheit. An diesem Morgen begleitet Sven-Olaf Lindner die Schülergruppe. Sie analysieren und interpretieren gerade einen Text mit dem Titel »Denn sie wissen, was sie tun«. Dabei handelt es sich um eine kritische Auseinandersetzung über TV-Shows. Lindner unterrichtet Deutsch am Freiburger Droste-Hülshoff-Gymnasium und ist Lehrbeauftragter am Staatlichen Seminar für Didaktik und Lehrerbildung Freiburg. Die Schüler haben ihn auf Honorarbasis engagiert. Sieben weitere Fachkollegen unterstützen das Projekt, aber sie stehen nicht vorne an der Tafel und dozieren. »Wir versuchen, eine sehr kommunikative Runde zu sein«, sagt der Schüler Bernhard Schaefermeyer, der sehr genau formuliert, was er von den professionellen Lernbegleitern erwartet: »Ich will selbstständig denken lernen und eigene Lösungen finden«. Mit Frontalunterricht aber sei das nicht möglich, das sei eine Methode, die ausschließlich zum passiven Lernen anrege.
Wie es nach dem Deutschunterricht weitergeht, entscheiden die Schüler individuell. »Ich werde heute Nachmittag Geschichte lernen. Jetzt aber mache ich erst einmal eine Mittagspause«, sagt David Orszagh, packt seine Utensilien in einen Rucksack und verschwindet. Bernhard Schaefermeyer und Ayla-Sophia Mayer werden sich ihrem gemeinsamen Faible widmen: der Biologie. »Ich kann es mir in Mathematik und Biologie durchaus leisten, den Lernstoff zu vertiefen«, sagt Schaefermeyer. In Englisch hingegen darf er nach eigener Einschätzung vom vorgegebenen Level nicht abweichen und benötigt außerdem die Unterstützung seiner Mitschüler. »Eines unserer Ziele ist es, dass wir lernen einzuschätzen, wie wir lernen müssen«, berichtet Ramona Engler. Dabei entwickelt sie eine bestechende Logik: Selbstbestimmtes Lernen geht wesentlich schneller, meint sie. Und wer schneller lernt, hat auch die nötige Zeit, um den Lernstoff zu vertiefen. Dennoch gibt es immer wieder simulierte Prüfungssituationen, denn auch die Methodos-Schüler wollen einschätzen können, wo sie stehen.
Man kann etwas verändern – wenn man will
Zweifellos kommen die meisten Schüler zu »Methodos«, weil sich ihnen hier eine optimale Möglichkeit bietet, das Abitur auf dem Zweiten Bildungsweg nachzuholen. Ayla-Sophia Mayer beispielsweise kommt aus der Montessori-Schule in Wertingen bei Augsburg. »Meine Schule hat nach dem Fachabitur aufgehört und ich musste einen anderen Weg zum Abitur wählen.« An ein staatliches Gymnasium wechseln wollte sie nicht. »Da blieb für mich nur noch der Umzug nach Freiburg.« Zweifellos kann man behaupten, der Idealismus der Gründergeneration, die bewusst aus dem etablierten Schulsystem ausgestiegen ist, lebt in der Freien Lerngruppe weiter. Dass dieser Idealismus etwas kostet und sich trotzdem lohnt, ist die Erkenntnis von Mit-Initiatorin Lena Schindler. Das wichtigste, das sie aus dem ersten Methodos-Jahr mitnehmen konnte, war das Erlebnis: »Man kann wirklich etwas verändern, wenn man will.«
Zur Autorin: Gerda Brändle, freie Journalistin und Öffentlichkeitsarbeiterin, pro.Komm+ Agentur für interne und externe Öffentlichkeitsarbeit.