Nach Corona ist vor Corona. Sind wir auf den nächsten Lockdown vorbereitet?

Erziehungskunst | Wie viele Teilnehmer aus welchen Fachgebieten haben von dem Beratungsangebot Gebrauch gemacht?

Christian Boettger | Es gab mehrere Online-Angebote. Für Klassenlehrer (jeweils für Klasse 1-4 und 5-8), dann für Sport und Bewegung, Eurythmie, Musik, Handwerk, Fremdsprachen und Mathematik. Es haben jeweils vier bis 15 Personen teilgenommen. Am Anfang wurde von den Erfahrungen berichtet, dann wurden Ideen zu Aufgabenstellungen, methodischen Ansätzen und digitalen Werkzeugen ausgetauscht.

EK | Welche Erfahrungen haben die Teilnehmer im Allgemeinen gemacht?

CB | Auf den Shutdown war keiner vorbereitet und die Lehrer reagierten sehr unterschiedlich. Viele haben sich enorm engagiert, sowohl auf der Stoff-, als auch auf der Beziehungsebene. Schwierig war es für die Bewegungs- und handwerklich-künstlerischen Fächer. Einige hatten es extrem schwer, sich auf die Situation einzustellen. Zuerst war alles chaotisch, dann erste Kontaktaufnahmen, schließlich Onlineunterricht und später die Herausforderung einer nahezu wöchentlich wechselnden Stunden­planung, um den Hygieneauflagen gerecht zu werden.

EK | Es macht also keinen Sinn, per Video Eurythmie, Handwerk oder Sport zu unterrichten?

CB | Die Teilnehmer berichteten, dass Eurythmie mit Kindern online nicht funktionierte, da sie vom Gruppengeschehen, von der Beziehung zum Lehrer, überhaupt von der seelischen Beziehungsqualität lebt. Allein mit »hygienischer« Eurythmie zur Konzentrationsförderung oder mit Augeneurythmie-Übungen bei zu viel Bildschirmarbeit könnte man sich auf einen zukünftigen Lockdown vorbereiten. Im Präsenzunterricht nach Corona gab es zwar einige originelle Ideen: Eurythmie oder Sport im Sitzen zum Beispiel, alles auf Abstand im Klassenzimmer. Oder jedem Schüler eine Handwerkkiste und eine Werkbank, die rasch aus Europaletten zusammengezimmert werden kann, für zu Hause bereitzustellen. Dafür braucht es dann eine Videoanleitung, da ja auch die Gefahrensituation bedacht werden muss.

EK | Für welche Fächer und ab welchem Alter ist eine digitale Lösung (noch) vertretbar?

CB | Dazu gibt es sehr breit gefächerte Aussagen. In der Mittelstufe wird digitaler Unterricht schon von mehreren Kollegen kritisch gesehen, da alles eine Frage der Begegnung ist. Besprechungen funktionierten in Kleingruppen, aber recht unbefriedigend in der ganzen Klasse. Diese Schülerteams oder Lerngruppen müssten von den Klassenlehrern schon jetzt angelegt werden, um auf ähnliche zukünftige Situationen vorbereitet zu sein. In der Unterstufe wird der Unterricht am Bildschirm noch kritischer eingeschätzt. Aber es gab auch einige Kollegen, die von guten Erfahrungen mit Unterrichtsvideos aus dem Klassenzimmer oder selbstaufgenommenen Geschichten berichteten, die sie den Kindern nach Hause schickten. Einige Kolleginnen aus dem Bereich Fremdsprachen plädierten dafür, im Falle eines nächsten temporären Lockdowns, in der Unterstufe zum Beispiel lieber ganz auf die Fremdsprachen zu verzichten – das könne alles nachgeholt werden. Viel wichtiger erscheint insgesamt: Wie hält man den Kontakt zu seinen Schülern? Dazu ist nötig, dass ein enger Betreuungsschlüssel gegeben ist. Das alles muss vorgedacht, vorbereitet und als Plan sofort umsetzbar in der Schublade liegen.

EK | Wie können die Eltern einbezogen werden, außer dass sie plötzlich zu Hilfslehrern werden?

CB | Auch in meinen Gesprächen mit Vertretern der Bundeselternkonferenz hat sich gezeigt, dass es gut wäre, vor dem nächsten Lockdown mit den Eltern der Klasse oder der Schule ins Gespräch zu kommen. Die Frage ist, wie kann man Eltern entlasten? Lieber das Fächerangebot und die Unterrichtszeit auf das Wesentlichste reduzieren, als zerhackte Stundenpläne, die kein Elternteil, gerade bei mehreren Kindern, unter einen Hut bekommt.

Meines Erachtens müssten auch auf Elternseite Netzwerke angelegt werden oder Bildungspaten im familiären oder schulischen Umfeld gefunden werden. Zuletzt ist das ja auch eine gesellschaftspolitische Frage: Ein Bildungsgutschein könnte die Hilfslehrertätigkeit der Eltern oder von Bildungspaten ohne Einkommensverluste honorieren, quasi eine bezahlte Freistellung. Eigentlich müsste die Corona-Krise die Idee des Grundeinkommens in der öffentlichen Debatte ganz nach vorne bringen.

EK | Welche Lehren für die Zukunft können aus den gemachten Erfahrungen gezogen werden?

CB | Die Schulen werden meines Erachtens auch im neuen Schuljahr mit Einschränkungen unterrichten müssen. Die Wichtigkeit des Handwerklich-Künstlerischen und der Bewegungsfächer in der Waldorfpädagogik zu betonen und diese Unterrichte aufrecht zu erhalten, wird schwer fallen und viele gute Ideen erfordern. Die Schülerzahl pro Klassenraum wird eventuell reduziert sein, die Fachräume können möglicherweise nicht mehr wie gewohnt genutzt werden. Wir haben an vielen Schulen zu wenig Räume. Der Lehrplan muss wahrscheinlich reduziert werden, das heißt, man muss sich überlegen: Welche Unterrichtsanteile und welche Epochen müssen unbedingt im Präsenzunterricht stattfinden, welche Teile kann man im Notfall nach Hause auslagern? Wieviel ist den Schülern, Eltern und Lehrern täglich zumutbar? Vier Stunden online am Stück sind eindeutig zu viel, ich empfehle maximal eineinhalb Stunden. Vor allem: Die Schüler müssen von ihren Lehrern umgehend auf selbstverantwortetes Arbeiten vorbereitet werden. Hier zeigte sich noch zu viel Lehrerabhängigkeit. Jede Schule muss für den nächsten Lockdown ein sinnvolles Gesamtpaket mit ausgeglichenem Fächerkanon und Stoffanteilen parat haben, das nicht auf Kosten der Lehrer, Schüler oder Eltern geht. Eine Voraussetzung dafür ist eine digitale, auch schulübergreifende Plattform. Ebenfalls wichtig ist, eine Materialdatenbank anzulegen. Es empfiehlt sich, schon im Voraus festzulegen, welche kleinen Schülergruppen von welchen Lehrern eng betreut werden. Auch sollte alles getan werden, dass Schüler nicht »abtauchen«. Für die Phase eines Lockdowns könnten auch individuelle Projekte geplant werden, die von den Schülern schon im Vorfeld mit ihren Betreuern abgesprochen sind und die durchaus im handwerklichen, künstlerischen oder sozialen Bereich liegen können. Diese könnten je nach eigenem Interesse oder Lernbedarf aus allen Bereichen des waldorfpädagogischen Angebots gewählt und individuell betreut werden.

Die Fragen stellte Mathias Maurer.